VIII. Buch. Die evangelische Kirche und Theologie. 37 III. Wendung und Weiterbildung. 1. Wendung zu neuer Religiosität. und nun zu der überraschenden Erscheinung, die den besprochenen kirchlichen Fragen und Problemen eine besondere Aktualität verleiht: es vollzieht sich in jüngster Zeit ein Umschwung und Aufschwung im religiösen Leben unseres Volkes. Allerdings noch ist dieses neue Streben verdeckt. Es regt sich hie und da unter der Oberfläche unseres glänzenden Kulturlebens. Noch hat es keineswegs die greifbare Gestalt einer bewußten Lebensrichtung des ganzen Volkes angenommen. Biele be- merken darum nichts davon. Und doch lassen sich schon auf nahezu allen Lebensgebieten Anzeichen des Kommenden, ja mit Sicherheit Nahenden und mit Macht Hereinbrechen- den beobachten, wenn auch manches davon nur gefühlsmäßig erfaßt werden kann. Überwindung des Naturalismus. Wie ganz anders istdie religise Stimmung seit den letzten JZahren des 19. Jahrhun- derts, etwa dem Erscheinen der „Welträtsel“, geworden. Damals schien in der öffent- lichen Meinung der Untergang des religiösen Lebens im deutschen Volke besiegelt. Heute wird es uns immer deutlicher, daß sich gerade seit jenen Tagen, in denen der Materialismus Angriffe von noch nie dagewesener Heftigkeit gegen Religion und Chri- stentum richtete, in den unbewußten Tiefen der Volksseele lange zurückgedrängte und balb vergessene Zdeale kräftig regen und sich gegen die Tyrannei einer Weltanschauung aufbäumen, die alles höhere Leben zu ersticken drohte. Alles, was noch an Odealismus im deutschen Geistesleben steckte — in Wissenschaft und Kunst, Philosophie und Religion — vereinigte sich, um an einer unerträglich gewordenen naturalistischen Theorie ein furchtbares Gericht zu vollziehen und ihm eine unwiderrufliche Adederlage zu bereiten. Man muß sich klarmachen, daß die wissenschaftliche, philosophische, religiöse Uberwindung des Naturalismue, unter dem unser Volk jahrzehntelang theoretisch und praktisch un- endlich gelitten hatte, Tatsache geworden ist. Das bedeutet eine der hervorragendsten Wendungen im deutschen Geistesleben. Seitdem stehen wir in einem fortschreitenden Prozeß sittlicher, überhaupt geistiger Selbstbesinnung. Auf allen Lebensgebieten ringt sich von ihren besten Vertretern das Bewußtsein von der Selbständigkeit und Ursprüng- lichkeit geistigen Lebens, um die höchsten Lebenswerte und Lebensgaben aus dem dumpfen Druck des ausschließlich naturwissenschaftlichen Denkens, das auf uns lastet, los. Renaissance des * d . zeigt sich mn. rrnange er den d . ang dieser Bewegung mit der großen Zeit vor hun eutschen gdealiemus Jahren. Denn das Emporkommen eines neuen Idealis- mus in unserem Volk ist nichts anderes als das Wiedererwachen des älteren deutschen Idealismus. Es ist schon mehrfach darauf hingewiesen, welche Renaissance der deutsche Idealismus, in dem die beste Kraft der deutschen Erhebung von 1813 steckte, vor allem 1005