264 Arbeiterverhältnisse Kammer Dr. Gross, ein ehrendes Zeugniss. Wir wollen versuchen, das Bild, das sich aus den im Berichte mitgetheilten, höchst schätzenswerthen Daten ergibt, in seinen Grundzügen zu veranschaulichen. Den bei weitem grössten Theil des Berichtes nimmt die Darstellung der Lohnsätze ein. Zur richtigen Würdigung der betreffenden Daten ist voraus- zuschicken, dass in den Fabriksdistrikten des Kammerbezirkes die Lebens- mittelpreise den höchsten in der österreichischen Monarchie beigezählt werden müssen. Ein Gleiches gilt hinsichtlich der Preise der Wohnungen der Ar- beiter, obgleich die Ansprüche sehr gering und. die Arbeiterwohnungen meist schlecht und ungesund sind. Eine Verbesserung derselben ist durch die Versuche des englischen Cottagesystems, welche die im Gebiete der Schaf- wollenfabrikation weithin rühmlich bekannte Firma: Johann Liebieg & Comp. zu Reichenberg und Swarow (wo sich ihre beiden grossen Etablissements befinden) mit Glück gemacht und beharrlich fortsetzt, in neuester Zeit ein- geleitet worden. Die Lohnsätze sind im Leipa’er Kreise im Durchschnitte etwas höher, als im Gitschiner. Diese Erscheinung wird nicht blos durch den etwas niedrigeren Stand der Lebensmittelpreise und durch die verhält- nissmässig geringere Dichtigkeit der Bevölkerung im Gitschiner Kreise !) erklärt, sondern auch auf Rechnung der Verschiedenheit der Erwerbsver- hältnisse beider Kreise geschrieben, da in dem grösseren Theile des Gitschiner Kreises der Landbau die Hauptnahrungsquelle der Bewohner ist und der wichtigste Gewerbszweig des Kreises, die Leinweberei, seit Jahren einen Rückgang aufzeigt. Im Allgemeinen ist der Arbeitslohn bei dem fabriks- mässigen Betriebe grösser, als bei dem handwerksmässigen und er steigt in dem Maasse, je bedeutender und blühender die Fabriksunternehmiung ist, in der der Arbeiter verwendet wird. Diese günstigere Stellung des Lohnarbeiters in Fabriken findet sich nicht nur dann vor, wenn Fabriks- und Handwerks- betrieb miteinander auf demselben Felde concurriren, sie hat auch statt, wenn Handwerker als solche in Fabriken beschäftigt werden. So erlangen Schmiede, Schlosser, Tischler in Fabriken einen täglichen Arbeitslohn von 40 kr. bis 1 fl. C.M., während ihr Tagesverdienst bei ihren Gewerbsmeistern nur 3'/; —20 kr., höchstens 24 kr. C.M. sammt Kost und Wohnung beträgt: Dieser erfreulichen Thatsache, welche allein schon hinreicht, das noch immer nicht ausgestorbene Geschlecht der Gegner des fabriksmässigen Be- triebes zu entwaffnen, stellt. sich aber eine andere, minder erfreuliche an die Seite: der zahlreichste Theil der industriellen Arbeiter im Kammerbezirke besteht aus Baumwollenwebern, deren Lohn theils durch die grosse Con- currenz der Arbeiter, theils durch die Conjunkturen des ganzen Industrie- zweiges sehr gedrückt ist. Das Jahreseinkommen einer Weberfamilie, in welcher Mann, Frau und ein Kind das ganze Jahr hindurch unausgesetzt zusammenarbeiten, wird auf 144 fl. 42 kr. C.M. geschätzt; es liefert also im y . 1) Allerdings wohnen auch im Gitschiner Kreise 6272 Menschen auf der Quadratmeile, im Leipa’er Kreise aber 7406.