098 Zweiter Teil. Viertes Buch. $ 283.
die gemeinsame Cottesverehrung, den Glauben und das sittliche
Handeln ihrer Mitglieder beschränken. Diese Schranken sind
jedoch häufig nicht eingehalten worden. Die Kirche besaß im
ittelalter eine umfassende Gesetzgebung und Gerichtsbarkeit über
weltliehe Dinge. Auch nach der Reformation blieb dieses Ver-
hältnis im wesentlichen bestehen und zwar nicht bloß in den
katholischen, sondern auch in den protestantischen Territorien,
wegen der engen Verbindung, in welche die protestantische Kirche
mit dem Staate getreten war. Namentlich in drei Beziehungen
erhielt sich eine Einwirkung der Kirche auf die bürgerlichen Ver-
hältnisse: 1. in der kirchlichen Form der Eheschließung, von
welcher auch die bürgerliche Gültigkeit der Ehe abhing, 2. in
der den kirchlichen Organen zustehenden Gerichtsbarkeit in Ehe-
sachen, 3. in der Teilnahme der Kirche an der Verwaltung und
Beaufsichtigung des Unterrichtswesens. Erst im Laufe des neun-
zehnten Jahrhunderts ist auch auf diesen Gebieten die ausschließ-
liche Herrschaft des Staates zur Anerkennung gelangt.
Die Religionsgesellschaften sind, wie alle anderen menschlichen
Vereinigungen, im Staatsgebiete der Herrschaft des Staates unter-
worfen. Den Inbegriff der Hoheitsrechte, welche dem Staate über
die Religionsgesellschaften, insbesondere über die christlichen
Kirchen zustehen, bezeichnet man als Kirchenhoheit (ius circa
sacra). Kirchengewalt (ius in sacra) bedeutet dagegen den In-
begriff der Rechte einer Kirchengemeinschaft über ihre Mitglieder.
Die Kirchenhoheit des Staates äußert sich namentlich in:
1. dem Reformationsrecht, d. h. dem Recht, über die
Zulassung einer Religionsgesellschaft im Staatsgebiet zu entscheiden
und deren rechtliche Stellung zu regeln;
2. dem Aufsichtsrecht. Auf Grund desselben hat der
Staat die Befugnis, Normativbestimmungen zu erlassen, nach
welchen die Kirchen sich bei Ausübung ihrer Gesetzgebungsgewalt
zu richten haben, und die Vornahme gewisser kirchlicher Akte von
seiner Genehmigung abhängig zu machen ®,
Der Staat gewährt anderseits den Religionsgesellschaften einen
besonderen Schutz®, indem er Strafgesetze gegen Störungen des
Gottesdienstes und Schmähung der religiösen Einrichtungen erläßt,
kularen Staatsrechts (Giese bei v. Roenne-Zorn B 166 ff.; Bornhak, Preuß.
StR, 3. Aufl., 8633 ff.; v. Seydel-Graßmann, Bayer. StR 2 444 ff.; Göz, Württ.
StR 487ff.; Walz, Bad. StR 458 ff.; van Calker, Hess. StR 297 ff.)].
8 Wenn Friedberg, Die allgemeine rechtliche Stellung der evange-
lischen Kirche zum Staat, Leipziger Dokanatepro amm 1887 und Verfassungs-
recht evangelischer Landeskirchen (1888) 8. 508 ff., Reformationsrecht und
Aufsichtsrecht nur als Ausflüsse der Vereinshoheit des Staates, bzw. seiner
Aufsichtsgewalt über öffentliche Korporationen bezeichnet, so ist dagegen
grundsätz ich nichts einzuwenden. Aber diese Befugnisse haben gegenüber
en Religionsgesellschaften eine so eigentümliche Gestaltung angenommen,
daß eine gesonderte Behandlung derselben für die juristische Darstellung
sich als notwendig erweist.
8 Vgl. Kahl, Lehrsystem 380 ff,; Giese bei v. Roenne-Zomn a. a. O.
3 182 #.; Anschütz, Komm. z, preuß, Verf. 1 267 ff., 281 ff, 336 f.