1024 Nachtrag.
für nötig und nützlich erachtet worden war, demokratische
Gedanken in den Organismus unseres Staatswesens einströmen zu
lassen. Deutschlands Erneuerung sollte Demokratisierung bedeuten.
Verstärkung der politischen Rechte in Reich, Staat und Gemeinde,
volle Durchführung der Gleichberechtigung aller Staatsbürger,
Verbreiterung insbesondere des Wahlrechts da, wo dies nötig war
(namentlich in Preußen), Beseitigung aller unverdienten Bevor-
zugungen und aller Ausnahmegesetze, Herstellung der Einheit von
Staat und Volk, das waren die neuen Richtlinien. Und das Bekenntnis
zu ihnen entsprang der Einsicht, daß Ansehen und Festigkeit, ja
letzten Endes das Dasein des Staates auf dem Vertrauen beruht,
welches das Volk dem Staate entgegenbringt, daß dieses Ver-
trauen aber nicht allein durch gute Leistungen des Staates für
das Volk, durch eine fürsorgliche und lautere Gesetzgebung und
Verwaltung, kurz, nicht bloß dadurch erworben wird, daß vieles für
das Volk geschieht, sondern nur dadurch, daß, was immer für das
Volk getan wird, möglichst auch durch das Volk geschieht. Und
8o erschien die Abkehr von der obrigkeitlich-autoritären zur demo-
kratischen Staatsauffassung als ein Gebot nicht sowohl der Gerechtig-
keit als der Staatsklugheit, ja der Staatsnotwendigkeit, Das ist,
in mannigfacher Abwandlung des großen Grundgedankens, von
politisch Einsichtigen, und keineswegs nur von solchen, die von
vornherein auf den Boden der Demokratie standen, oftmals aus-
gesprochen worden, in der Literatur?, in der Tagespresse, in den
Parlamenten und, wenn auch mit gewisser Zurückhaltung, von
Männern der Regierung: so hat insbesondere der Reichskanzler
Dr. v. Bethmann-Hollweg sich zu öfteren Malen für die Not-
wendigkeit der Neuorientierung eingesetzt®.
Die Reformbestrebungen richteten sich sowohl auf die Ver-
hältnisse im Reich wie auf die in den Einzelstaaten, namentlich
aber auf Preußen. Hier war es vor allem das Wahlrecht zum
Abgeordnetenhause, was verbesserungsbedürftig erschien, während
es sich im Reiche vorzugsweise um eine Erweiterung der Rechte
des Reichstagg® im Sinne des parlamentarischen Regierungs-
systems, um die „ParlamentArisierung“ der Reichsverfassung ge-
handelt hat.
3 [ch nenne, ohne im einzelnen zu zitieren, zunächst Namen wie
Friedrich Naumann, Max Weber, Hans Delbrück, Friedrich Meinecke, Friedrich
Thimme. Vgl. dann etwa folgende Bücher und Schriften: 'Thimme und
Legien, Die Arbeiterschaft im neuen Deutschland (1915); Bozi und Heine-
mann, Recht, Verwaltung und Politik im neuen Deutschland (1916), beides
Sammelwerke mit vielen inzelbeiträgen; Hugo Preuß, Das deutsche Volk
und die Politik (1915, dazu Anschütz ın den Preuß. Jahrbüchern 161 339 ff.);
F. Naumann, Der Kaiser im Volksstaat (1917); M. Weber, Wahlrecht und
Demokratie in Deutschland (1917); Wolfgang Heine, Zu Deutschlands Er-
neuerung (1916); G. Anschütz, Zukunftsprobleme deutscher Staatskunst (1915)
8. 27f£.; F. Stier-Somlo, Grund- und Zukunftsfragen deutscher Politik (1917);
zahlreiche, bier nicht aufzählbare Artikel in der Zeitschrift „Die Hilfe“,
1914—1918, von F. Naumann, W. Heile, Gertrud Bäumer und anderen.
® Vgl. namentlich seine Reichstagsrede vom 27. Februar 1916.