L. Staatsrechtl, Reformen u. Reformbestrebungen während d. Kriegszeit. 1025
1. Das Ziel der preußischen Wahlreform* war die
Beseitigung des auf der Verordnung vom 80. Mai 1849 beruhen-
den Wahlrechts (oben $ 100 8. 352, $ 101 S. 354), welches formell
ein allgemeines, tatsächlich aber ein eng beschränktes war und
für die den ärmeren und besitzlosen Volksklassen angehörigen,
also die meisten Wähler nicht mehr bedeutete als ein wertloses
Scheinrecht. Dieses Wahlsystem („Dreiklassensystem“) war,
in schroffem Gegensatz zu den gleichen, direkten und geheimen
Reichstagswahlrecht (oben $ 129) weder gleich (denn es stufte
das Stimmgewicht des Wählers nach Besitz und Einkommen, ge-
messen an der Höhe der von ihm gezahlten direkten Steuern ab),
noch direkt (denn es ließ die Abgeordneten durch Wahlmänner
wählen, die ihrerseits durch die „Urwähler“ bezeichnet wurden),
noch geheim (denn es schrieb öffentliche und mündliche Ab-
stimmung sowohl bei den Ur- wie bei den Abgeordnetenwahlen
vor). Es waren gewichtige Gründe, welche den Gegnern dieses
Systems zur Seite standen. Man bekämpfte die roh materia-
listische Auffassung, welche den Umfang des wichtigsten der staats-
bürgerlichen Rechte einseitig und ohne jedes Korrektiv nach der
Wohlhabenheit bestimmt. Man wies darauf hin, wie das Drei-
klassenwahlrecht, indem es die der dritten „Klasse“ zugewiesenen,
also die überwiegende Mehrzahl aller Wähler tatsächlich von
der aktiven Teilnahme am Staate ausschloß, diese Massen dem
Staate in gefährlicher Weise entfremdet. Man machte geltend,
daß die Heterogenität des Wahlrechts im Reich und in Preußen,
und damit die parteipolitische Zusammensetzung der beiden Parla-
mente, geeignet und erfahrungsgemäß auch vielfach schon imstande
ewesen sei, die unentbehrliche Homogenität der preußischen
Staatspolitik und der Politik der Reichsleitung (vgl. oben $ 135
S. 525, 526) in Frage zu stellen.
‘ Den immer dringender erhobenen Forderungen der öffent-
lichen Meinung — insbesondere auch des Reichstags, der die
Wahlreform für eine nicht nur preußische, sondern deutsche
Frage erklärte und daraufhin für sich das Recht zum Mitreden
in Anspruch nahm — folgend, entschloß sich die preußische Staats-
regierung schon 1916 zu einem, vorerst freilich nur etwas un-
bestimmt gehaltenen, Bekenntnis zu den Ideen der Reform:
Thronrede vom 13. Januar 1916. Im nichsten Jahre geschahen
dann entscheidendere Schritte. Eine Botschaft des Kaisers und
Königs vom 7. April 1917 sprach die Meinung der Krone dahin
aus, daß „nach den gewaltigen Leistungen des ganzen Volkes in
diesem furchtbaren Kriege für das Klassenwahlrecht in Preußen
* Aus der Literatur: Meinecke, Die Reform des preuß. Wahlrechts,
Annalen für soziale Pol. u. Gesetzgeb. 5 1ff.; Anschütz, Die preuß. Wahl-
reform, das. 273 ff. (auch besonders erschienen); Thimme, Die Reform des
reuß. Landtags, das. 519 &.; Holtz, Zur Wahlreform in Preußen, Schmollers
ahrbuch 41 ff.; Damme in der DJZ 1917 353 ff.; Laband, das. 449 ff.;
E. Kaufmann, das 1918 12 ff,