I. Staatsrechtl. Reformen u. Reformbestrebungen während d. Kriegszeit. 1027
„Verfassungsausschuß“ eingesetzt hat. Dieser Ausschuß kam nach
mehrmonatlichen Verhandlungen zu einer Reihe von Beschlüssen ®,
welche eine Abänderung bzw. Ergänzung der Reichsverfassung
nach folgenden Richtungen forderten: Verstärkung der Immunität
der Reichstagsmitglieder, Recht und Pflicht des Reichskanzlers
sowie seiner Stellvertreter, als solche (nicht nur in ihrer Eigen-
schaft als Mitglieder des Bundesrates) im Reichstage jederzeit das
Wort zu ergreifen, nähere Regelung der Verantwortlichkeit des
Reichskanzlers, Erstreckung der ministeriellen Verantwortlichkeit
auf militärische Angelegenheiten, insbesondere Notwendigkeit der
Gegenzeichnung der Kriegsminister bzw. des Reichskanzlers bei
Offiziersernennungen im Bereiche des Landheeres und der Marine,
endlich Vermehrung der Mitgliederzahl des Reichstags unter vor-
zugsweiser Berücksichtigung der Wahlkreise mit starkem Be-
völkerungszuwachs, insbesondere der Großstädte, und unter Ein-
führung der Verhältniswahl für diese Wahlkreise,
Neben den Arbeiten des Verfassungsausschusses her und teil-
weise iiber sie hinaus ging, mit stärkerem Druck seit Juli 191
einsetzend, eine Bewegung, welche darauf abzielte, das parlamen-
tarische Regierungssystem in irgend einer Form im Deutschen
Reiche einzuführen. Diese Bewegung ist nicht nur im Reichstage
und seinen Parteien zum Ausdruck gekommen, sie hat auch in
der Literatur lebhafte Erörterungen hervorgerufen’, wobei das
Wesen des parlamentarischen Systems (Parlamentarismus) unter-
sucht und die Möglichkeit und Zweckmäßigkeit seiner Einführung
im Deutschen Reich vielseitig und gründlich untersucht wurde,
Was denen, welche die Parlamentarisierung befürworteten, vor
allem verbesserungsbedürftig erschien, war die allzu dualistische,
unverbundene Gegensätzlichkeit von Parlament und Regierung,
wie sie dem deutschen Konstitutionalismus eigentümlich war. Man
stellte die Frage: Wie kann der Regierungskörper des Reichs mit
dem Reichstag in eine organische Verbindung gebracht werden,
zu dem Zwecke, um unnötige Reibungen und Hemmungen zwischen
Parlament und Regierung zu verhüten, um eine stetige Beein-
flussung der Regierung durch das Parlament, aber auch des
® Die Verhandlungen des Verfassungsausschusses sind in den Druck-
sachen des Reichstags veröffentlicht. Vgl. auch Schiffer, Der Verf.- Ausschuß
und seine Arbeit (1917).
? Max Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutsch-
land (1918); Anschütz, Parlament und tegierung im Deutschen Reich (1918);
Derselbe, DJIZ 2 697 fl.; Arndt. DJZ 22 537 £f., 769 ff.; Wittmayer, Deutscher
Reichstag und Reichsregierung, (1918); Th. Heuß, Die Bundesstaaten und
das Reich (1918); Gmelin, Zur Frage der Einführung parlam. Regierung im
Reiche, Ztschr. f. Politik 11 294 ff.; Piloty, Das parlam. System (1917); Löwen-
stein im ArchÜffR 88 378 ff.; R. Reds ob, Die parlam. Regierung in ihrer
wahren und unechten Form (1918). Die Vorstehenden alle der Parlamentari-
sierung mehr oder minder geneigt. Ein scharfer Gegner: E. Kaufmann,
Bismarcks Erbe in der Reichsverfassung (1917). er und gegen ihn:
Rosenthal in der deutschen Literatuszeitung, 1918, Nr. 23 u. 24.
G. Meyer-Anschütr, Deutsches Staatsrecht. III. 7. Aufl. 66