Full text: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts.

208 Erster Teil. Viertes Buch. $ 68. 
8 68. 
Am 21. März 1871 trat der erste Deutsche Reichstag in Berlin 
zusammen. Der Bundesrat legte demselben eine neue Redaktion 
der Reichsverfassung vor, welche den Zweck hatte, die in 
den einzelnen Verträgen zerstreuten Bestimmungen in einer Ur- 
kunde zusammenzufassen und die Bezeichnung „Kaiser“ und 
„Reich“ in der ganzen Verfassung zur Durchführung zu bringen. 
In derselben waren nur zwei Änderungen enthalten: 1. daß im 
Bundesratsausschuß für die auswärtigen Angelegenheiten außer 
den Bevollmächtigten von Bayern, Württemberg und Sachsen 
noch zwei andere vom Bundesrat jährlich zu wählende Bevoll- 
mächtigte vertreten sein sollten; 2. daß Bayern die selbständige 
Regelung seines Post- und Telegraphenverkehrs mit seinen dem 
Reiche nicht angehörigen Nachbarstaaten gewährt werde, eine 
Vergünstigung, welche Württemberg bereits im Vertrage vom 
25. November zugestanden und welche auch für Bayern von 
vornherein in Aussicht genommen war. Diese neue Redaktion 
wurde vom Reichstage angenommen und am 16. April 1871 
publiziert !, 
Die Reichsverfassungsurkunde vom 16. April 1871 
ist an die Stelle der durch die Novemberverträge vereinbarten 
Verfassung getreten. Die Bestimmungen der Schlußprotokolle, 
Artikel 80 der durch Vertrag vom 15. November 1870 festgestellten 
Verfassung, Artikel 2 Nr. 6 des Vertrages vom 25. November, 
Nr. III 8 8 und Nr. IV des Vertrages vom 23. November, sind: 
zwar nicht in den Text der Reichsverfassung aufgenommen, aber 
durch die $$ 2 und 3 des Einführungsgesetzes ausdrücklich auf- 
rechterhalten worden. 
Die Feststellung der Verfassung vom 16. April 1871 hat nur 
den Zweck einer Redaktion gehabt? Eine Absicht der 
Reichsgesetzgebung, an den Bestimmungen der Novemberverträge 
urkunde 77. — Vgl. die Verhandlungen im norddeutschen Reichstage,. 
I. Legislaturp,, 2, außerordentl. Sess. 1870, Sten. Ber. 132 u. 133. Die Be- 
hauptung, daß das jetzige Deutsche Reich eine staatsrechtliche Fortsetzung. 
des alten sei (v. Ruville, Das Deutsche Reich ein monarchischer Einheits- 
staat, Berlin 1894, Die Kaiserproklamation des Jahres 1871 vom Stand- 
punkte des Staatsrechts, in den Preuß. J. 88 15 ff.), beruht auf einer völli 
willkürlichen Konstruktion der historischen Tatsachen und ist gänzlich. 
unhaltbar. 
ı RGBI. (1871 Nr. 16) 63 ff. 
2 Daß die Absicht der gesetzgebenden Organe dahin gegangen ist, eine- 
bloße Redaktion der bestehenden Bestimmungen vorzunehmen, ergibt sich 
aus den Verhandlungen mit voller Deutlichkeit, denn diese Absicht ist nicht 
nur ausgesprochen in den Motiven zur Regierungsvorlage (Sten. Ber. 8 10), 
sondern auch in den Verhandlungen des Reichstages, und zwar sowohl von 
mehreren Mitgliedern des Bundesrates (Staatsminister Delbrück, Sten. Ber. 22, 
Fürst Bismarck a. a. O. 95) als von verschiedenen Abgeordneten (Lasker 
a. 2.0. 95, Miquel a. a. 0.96, Windthorst a. a. 0. 96) ohne Widerspruch und 
unter allseitiger Zustimmung.
	        
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