284 Zweiter Teil. Zweites Buch. $ 86.
schaftsrechte der Agnaten und aller sonstigen Sukzessionsberech-
tigten keine Privatrechte; es sind subjektive öffentliche Rechte.
Aber wenn sie selbst Privatrechte wären, so wären sie doch der
souveränen Regulierungsgewalt der Staatsgesetzgebung nicht minder
unterworfen. Das Privatrecht ist der gesetzgebenden Gewalt gegen-
über nicht stärker als das öffentliche Recht.] Auf dem Wege der
Verfassungsgesetzgebung können daher überall Abänderungen der
Thronfolgeordnung ohne jede Mitwirkung der Agnaten vorgenommen
werden. Bei hauszesetzlichen Abänderungen ist deren Zustimmung
allerdings erforderlich, wenn nach den in dem betreffenden Hause
geltenden Rechtsgrundsätzen Akte der Hausgesetzgebung nur unter
Mitwirkung der Agnaten zustande kommen. Aber auch in diesem
Falle hat ihre Tätigkeit nicht den Charakter eines Verzichtes
auf subjektive Ansprüche, sondern einer Teilnahme bei
der Herstellung objektiver Rechtssätze.
(Zusätze. I. In neuerer Zeit ist, wie schon aus den Zusätzen zu $ 85
N.4 und $ 86 N. 1, 3 zu ersehen ist, die Opposition gegen die bis dahin
sanz unbedingt herrschende Meinung, wonach die Thronfolgeordnung und
die auf ihr beruhenden Rechte der Agnaten freier staatsgesetzlicher Regu-
lierung unterliegen, in nicht unbeträchtlichkem Maße angewachsen. Die
5. Aufl. dieses Lehrbuchs (erschienen 1899) — vgl. N. 3 zu diesem Para-
graphen — konnte von modernen Anhängern der Unverletzlichkeit der
Agnatenrechte gegenüber der Staatsgesetzgebung außer v. Gerber (der in
diesem Punkte doch nur als letzter Ausläufer der älteren, in anderem Ge-
dankenboden wurzelnden Richtung Zachariäs, Zöpfls u. a. erscheint) nur
die mehr im Wähnen als in der Kunst des Überzeugens starke Autorität
Kekules v. Stradonitz anführen. Seither sind nun aber andere hinzu-
gekommen: Arndt, Kohler, Stoerk, Rehm, Zorn — lauter Stimmen, die,
unter sich nicht immer in schönster Harmonie (vgl. oben & 85 N. 4), darin
$ 85 N. 4 zit. Stellen; Frisch, Thronverzicht 65 ff.; Perels, Streitigkeiten
deutscher Bundesstaaten (Berliner Diss., 1900) 26 ff. und manche andere.
Wenn diesem vielstimmigen, in sich einstimmigen Chor gegenüber Stoerk,
ie agnatische Thronfolge im Fürstentum Lippe (1903) 4 Schücking be-
schuldigt, er habe die Lehre, daß Agnatenrechte durch Staatsgesetz ohne
Zustimmung der Inhaber aufgehoben werden können, „irrtümlich“ als die
herrschende bezeichnet, so liegt der „Irrtum“ hier nicht auf seiten Schückings,
sondern Stoerks. Daß die von Schücking als „herrschend“ bezeichnete Lehre
dieses Prädikat verdient, ist, wie Seydel, Staatsr. u. polit. Abhandl. (1902) 194
mit Recht bemerkt, ein „Notorium“.] — Auch v. Gerber, St.R. (3 29) 92 N. 7
ist der Ansicht, daß ein einmal begründeter Sukzessionsanspruch dem Be-
rechtigten nicht entzogen werden könne, weil es eine der ersten Forderungen
des modernen Staates sei, daß die Thronfolge jeder Willkür entrückt werde.
Aber man kann von Rechtsgrundsätzen und Rechtsverhältnissen deshalb,
weil sie der Fortbildung durch die Gesetzgebung unterliegen, unmöglich
behaupten, daß sie der Willkür unterworfen seien. Auch würde v. Gerbers
Ansicht dahin führen, daß das Thronfolgegesetz eine lex in perpetuum valitura
sei. In neuerer Zeit hat dann Kekule v. Stradonitz im Arch.Öf.R. 14 3 und
in einem der Fürstl. schaumburg-lippischen Staatsregierung erstatteten, von
Seydel, Staater. u. polit. Abhandl. 194 ff. kritisch besprochenen Gutachten
die Befugnis der Gesetzgebung zur Regelung der Thronfolgefrage bestritten,
und zwar unter Berufunz auf die „Monarchie von Gottes Gnaden“, eine
Motivierung, die völlig nichtssagend ist. [Über weitere Vertreter der Un-
verletzlichkeit des Agnatenrechts gegenüber der Staatsgesetzgebung s. die
Zusätze zum Text dieses Paragraphen.]