Full text: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts.

290 Zweiter Teil. Zweites Buch. $ 87. 
Während nun aber zur Nachfolge überhaupt alle Deszendenten 
des ersten Erwerbers berufen sind *, bezog sich die hausgesetzliche 
Einführung der Primogenitur regelmäßig nur auf diejenige Linie, 
welche zu der Zeit, wo die Einführung erfolgte, im Besitz der 
Regierung war. Auf die Seitenlinien, welche etwaige eventuelle 
Sukzessionsrechte besaßen, sollte sie keine Anwendung finden. Sie 
konnte auch auf diese, nach Lage des damaligen Rechtszustandes, 
nur mit ihrer eigenen Einwilligung ausgedehnt werden. Auch die 
Bestätigung des Erstgeburtsrechtes durch die neueren Verfassungen 
hat meist nur in dem Umfange stattgefunden, in welchem es durch 
die Hausgesetze festgestellt war. Erlischt daher die Linie oder 
das Haus, auf welche sich die Einführung der Primogeniturordnung 
bezog, so werden die aus früberer Zeit berechtigten Linien nicht 
nach der Primogeniturordnung berufen. Ihre Reihenfolge richtet 
sich vielmehr nach demjenigen Rechte, welches zur Zeit der 
Entstehung ihres Anspruches maßgebend war®. Welcher Art 
dieses Recht ist, kann nur durch konkrete T/ntersuchung fest- 
gestellt werden. Es entscheiden darüber in erster Linie die Haus- 
gesetze und das Herkommen des betreffenden Hauses. In Er- 
mangelung spezieller Grundsätze werden in der Regel die Vor- 
schriften des lombardischen Lehnrechtes als maßgebend erachtet 
werden müssen®. 
da 86 fl. Pactum unionis des Grafen Simon III. zur Lippe von 1368 nebst 
kaiserlicher Bestätigung von 1521, kaiserliche Bestätigungen des Primogenitur- 
rechtes von 1593 und 1626, Testament des Grafen Simon VI. von 1597, gräflich- 
ippischer Hauptvergleich vom 22./24. Mai 1792 (H. Schulze a. a. 0.2 147 ff., 
173 .); Testam. des Grafen Philipp zu Schaumburg-Lippe von 1668 und 
Kaiserliche Bestätigung des Primogeniturrechtes von 1687 (H. Schulze 
a. a. O. 164 ff.); V. des Grafen Albert Anton von Schwarzburg-Rudolstadt 
vom 1. Juli 1710 (H. Schulze a, a. ©. 8 360ff.); Hamburger Vergleich vom 
8. März 1701 unter den Herzögen Friedrich Wilhelm und Adolf Friedrich II. 
von Mecklenburg nebst Kaiserlicher Konfirmation vom 26. März 1701. 
Erläuterungsvertrag vom 14. Juli 1755 (H. Schulze a. a. O. 2 221 ff., 236 ff), 
* Nach älterem deutschen, insbesondere nach sächsischem Recht waren 
in bezug auf die Lehnsbesitzungen nur die Deszendenten des letzten Be- 
sitzers, dagegen nicht dessen Seitenverwandte erbberechtigt, auch wenn sie 
vom ersten Erwerber abstammten. Das Mittel, diesen die Sukzession zu 
sichern, war das Institut der Gesamtbelehnung. Über die Bedeutung der- 
selben für die deutschen Fürstenhäuser vgl. v. Sicherer, Über die Gesamt- 
belehnung in deutschen Fürstenhäusern, München 1865. 
5 Die unbedingte Anwendbarkeit der Primogeniturordnung auch für 
diese Fälle behauptet Pfeiffer, Ordnung der Regierungsnachfolge, namentlich 
Bd. 1 8$ 29 u. 30. — Vgl. dagegen v. Gerber, SER. ($ 29) 9 N.5 und Rehm, 
Mod. Fürstenr. 394 ff. 
® Diese gelten wenigstens für den Fall, daß die Besitzungen Reichs- 
lehen waren, was in der Regel der Fall sein wird. Waren sie dagegen 
allodial, so sind die Grundsätze über die Sukzession in allodiale Stamm- 
güter maßgebend. — Mit Unrecht leugnet Grotefend, St.R. $ 373 jede An- 
wendbarkeit lehnrechtlicher Grundsätze auf die heutige Thronfolge. Er 
beruft sich darauf, daß die jetzigen Staaten keine Lehnsbesitzungen seien. 
Dies ist allerdings richtig, aber zur Reichszeit hatten sie die Eigen- 
schaft von Lehen, und für das Erbrecht der Familie waren daher im 
Zweifel die lehnrechtlichen Vorschriften maßgebend. Dieses hergebrachte
	        
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