Die Organe. $ 97. 335
Fall ist weder der einzige noch auch der praktisch wichtigste,
Viel häufiger kommt es vor, daß Regierung und Volksvertretung
über die politische Zweckmäßigkeit einer Maßregel verschiedener
Meinung sind. Und gerade ein solcher Gegensatz kann leicht zur
Folge haben, daß notwendige Gesetze oder der Staatshaushaltsetat
nicht zustande kommen, Ja es ist sogar möglich, daß wegen
derartiger Differenzen ein beinahe vollständiger Stillstand im Staats-
leben eintritt.
In England und nach seinem Vorbild auch in einigen konti-
nentalen Staaten hat man die Lösung dieses Konfliktes in dem
System derparlamentarischen Regierung gefunden Wenn
der Monarch die Führer der Parlamentsmajorität als Ratgeber in
das Ministerium beruft und unter ihrer Verantwortung seine
Funktionen ausübt, so ist die notwendige Harmonie zwischen
Regierung und Volksvertretung hergestellt. Die Einführung dieses
Systems in Deutschland hat nicht nur in parlamentarischen Ver-
sammlungen, sondern auch in der Literatur lebhafte Verteidiger
gefunden %, Dasselbe ist jedoch bis jetzt praktisch nicht zur
Geltung gelangt. Und wenn es auch unter allen Umständen
wünschenswert erscheint, daß bei der Besetzung der Ministerstellen
auf die Stimmung der Volksvertretung Rücksicht genommen wird,
so muß doch andererseits zugegeben werden, daß die Voraus-
setzungen für eine parlamentarische Parteiregierung, wie sie in
England besteht, in Deutschland nicht vorliegen. Es fehlen nament-
lich die großen regierungsfähigen Parteien, welche die notwendige
Grundlage einer solchen Einrichtung bilden. Auch die Rücksicht
auf die Reichspolitik gestattet es nicht, die Ministerien der Einzel-
staaten lediglich nach Maßgabe der jeweiligen Majoritäten in den
Landtagen zu bilden.
2. Zusammensetzung des Landtages.
8 97.
Die Teilung des englischen Parlamentes in Ober- und Unter-
haus beruht auf historischen Verhältnissen, welche dem englischen
Staatsleben durchaus eigentümlich sind. Nichtsdestoweniger ist
das Zweikammersystem in fast alle Verfassungen größerer
europäischer Staaten tibergegangen. Auch in Deutschland hat
18 Der bedeutendste schriftstellerische Vertreter ist R. v. Mohl. Vgl.
„Die Geschichte und Literatur des allgemeinen konstitutionellen Staats-
rechtes“, Geschichte uud Literatur der Staatswissenschaften 1 283 ff., und
„Das Repräsentativsystem, seine Mängel und Heilmittel“, Staatsrecht, Völker-
recht, Politik 1 392. Die beste, in jedem Punkte treffende, gleichwohl
der geistigen Bedeutung des Gegners voll gerecht werdende Kritik Mohls
ist von M. v. Seydel geschrieben: vgl. dessen Vorträge aus dem allgemeinen
Staater. 29 ff. (Wiederabdruck aus Änn.D.R. (1898) 746 ff. Über das Wesen
der parlam. Regierung vgl. Jellinek, Staatsl. 700 ff., Regierung und Parlament
in Deutschland (1909), Ausgew. Schriften und Reden 2 280 ff.; W. van Calker
im Handb. der Politik 1 143 fl.