3064 Zweiter Teil. Zweites Buch. $ 104.
treffenden Kammer®; alsdann kann der Landtag bzw. jede Kammer
die Geschäftsordnung auf dem durch diese selbst oder durch Gesetz
vorgeschriebenen Wege einseitig abändern.
Bei der Einführung parlamentarischer Institutionen in Deutsch-
land waren die Einrichtungen des englischen Parlaments nur
wenig bekannt, wegen ihrer Kompliziertheit auch schwer ver-
ständlich. Man schloß sich daher auch in bezug auf die Geschäfts-
behandlung wesentlich an französische Vorbilder an. Erst in
späterer Zeit hat man sich in einzelnen Beziehungen dem eng-
lischen System genähert, |
Der Landtag wird entweder durch den Monarchen in Person
oder durch einen bevollmächtigten Minister mit einer sogenannten
Thronrede eröffnet, welche er nach Ermessen durch eine Adresse
beantwortet. Die ersten Geschäfte des Landtages sind die Be-
eidigung der neu eingetretenen Mitglieder auf die Verfassung, die
Prüfung der Legitimation der Mitglieder, die Wahl oder Bestellung
der Präsidenten, Schriftführer und anderen Beamten, die Ver-
losung der Mitglieder in die Abteilungen, wo eine derartige Ein-
teilung üblich ist. In allen deutschen Staaten besitzen die Land-
tage und da, wo Zweikammersystem besteht, die einzelnen Kammern
das Recht, die Legitimationihrer Mitglieder, insbesondere
tarische Sondergewalt und Disziplin, Arch.Öff.R. 32 454 ff. Letzterer erklärt,
davon ausgehend, daß der die Geschäftsordnung festsetzende Parlaments-
beschluß nicht die Willenserklärung einer Einheit, sondern die überein-
stimmende Willenserklärung einer Vielheit darstellt, die Geschäftsordnung
für objektives Recht, welches durch Vereinbarung geschaffen ist, wendet
also den oben S. 54 erörterten Rechtsbegriff der Vereinbarung (des Gesamt-
akts) auf die sog. parlamentarische Autonomie an.
® Preuß. ve . Art. 78, Württ. Verf. & 164a (G. vem 23. Juni 1874
Art. 3), Reuß ä. L. Verf. $ 79, Reuß j. L. StGG. $ 87, Schaumb.-Lipp. Verf.
Art. 24, Lipp. G. die Zusammensetzung des Landtages betr., vom 3. Juni
1876 $ 6, Wald. Verf. 8 60. Formell gelten diese autonomen Geschäfts-
ordnungen immer nur für eine Landtagsperiode: de facto werden sie aber
stets von den folgenden übernommen. Preußen GO. für das Herrenhaus in
der Fassung vom 15. Juni 1892 u. 9. April 1908, Abgeordnetenhaus, amtliche
Ausg. vom Dez. 1910; Württ. GO. der Ersten Kammer vom 13. Juli 1910 u.
5. Okt. 1912, der Zweiten Kammer vom 12. Aug. 1909, abgeändert vom
7. April 1914; Gemeinsame Gesch.-Ordn. beider Kammern vom 5. Juli 1907,
14. Aug. 1909 |Erste Kammer] u. 12. Aug. 1909 [Zweite Kammer], Reuß &.L,
GO. undatiert, Reuß j. L. undatiert, Sc aumb.-Lipp. GO. undatiert, Lipp.
GO. vom 25. Jan. 1871, abgeändert 1910 [eine grundsätzliche Umgestaltun
in Vorbereitungl, Wald. GO. vom 13. Nov. 1869. — Auch in Bayern un
Sachsen haben die Kammern das Recht, über die Behandlung der Geschäfte
autonomische Bestimmungen innerhalb der durch die im $ 2 angeführten
Gesetze gezogenen Schranken zu erlassen. [In Baden wird das Recht zur
autonomen Regelung der Geschäftsordnung von den Kammern in Anspruch
enommen und auch von der Repierung nicht bestritten, obwohl es in der
erfassung nicht erwähnt ist. Vgl. Walz in der unten N. 6 angegebenen
Schrift, Sonderabdruck 14 ff. und derselbe, Bad. Staatsr. 82, 83.]
* [Vgl. hierzu den Aufsatz von Laband, „Parlamentarische Rechts-
fragen“, in DJZ. (1903) Sff. Daselbst insbes. auch Erörterungen über die
Zuständigkeit zur Auslegung der Geschäftsordnung und über die Folgen
der Nichtbeachtung der Geschäftsordnung durch die jeweilige Majorität.)