Full text: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts.

30 Einleitung. $ 8. 
ist der Begriff der Verfassung in diesem Sinne unbekannt. Der- 
selbe hat seine Ausbildung in Nordamerika gefunden. Nach der 
Unabhängigkeitserklärung der englischen Kolonieen verwandelten 
einzelne derselben die ihnen von der englischen Krone verliehenen 
Kolonialcharten in Verfassungen, andere gaben sich besondere 
Grundgesetze!®. Auch die Union erhielt bei ihrer Begründung eine 
von den gewöhnlichen Gesetzen verschiedene Verfassung. Dem 
amerikanischen Beispiel folgten die Staaten des europäischen 
Kontinents nach!. Die Bedeutung der Verfassung ist jedoch in 
den verschiedenen Ländern eine verschiedene. In Nordamerika 
bestehen für die Abänderung der Verfassung besondere verfassung- 
gebende Organe, welche mit den gesetzgebenden nicht identisch 
sind. Ähnliche Einrichtungen haben auch in den europäischen 
Republiken, nämlich in Frankreich und der Schweiz, Eingang ge- 
funden. Nach dem Staatsrecht der konstitutionell-monarchischen 
Staaten Europas, insbesondere nach deutschem Staatsrecht steht 
dagegen die Abänderung der Verfassung den gewöhnlichen Organen 
der Gesetzgebung zu, und es sind dafür nur erschwerende Formen 
vorgeschriebend. [Die Verfassung gilt hier nicht als Wille einer 
° Jellinek, Staatsl. 515 ff.; E. Zweig, Die Lehre vom Pouvoir constituant, 
ein Beitrag zum Staatsrecht der französischen Revolution (1909) 50 ff. 
10 Vgl. Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte 
(2. Aufl., 1904), 11 ff., Staatsl. 518 f. 
1 er den Begriff der Verfassung und der verfassunggebenden Gewalt 
(pouvoir constituant) in der Staatslehre der französischen Revolution vgl. 
as oben N. 9 zit. Buch von Zweig, 
SE und, Das Öff. Recht der Vereinigten Staaten von Amerika (1911) 
A . 
4 Die früheren Auflagen enthielten an dieser Stelle noch folgende Sätze: 
„Die Justiz darf unter keinen Umständen gegen die bestehenden Rechts- 
vorschriften verstoßen, denn ihre Aufgabe ist die Aufrechterhaltung der- 
selben. Dagegen darf die Staatsgewalt in Ausübung ihrer andern Tätig- 
keiten die rechtlichen Schranken durchbrechen, wenn die Existenz oder 
Sicherheit des Staates dies erfordert. In einem solchen Falle kann die Ver- 
waltung gesetzwidrig, die Gesetzgebung verfassungswidrig handeln. Man 
nennt dies Recht der Staatsgewalt das ius eminens oder Staatsnot- 
recht. Der Ausdruck „Staatsnotrecht* ist jedoch nicht korrekt. Die be- 
treffenden Handlungen sind nicht Ausfluß eines Rechtes, sondern werden 
entgegen dem bestehenden Recht vorgenommen.“ — Diese Ausführungen 
sind, soweit sie sich auf die Justiz beziehen, selbstverständlich, soweit auf 
die „andern Staatstätigkeiten“, abwegig. Eingriffe der Verwaltung bedürfen 
im Rechtsstaate stets der gesetzlichen Örundlage; auch dann, wenn sie durch 
die Existenz oder Sicherheit des Staates erfordert“ sind. Der „Notstand“ 
kann die gesetzliche Grundlage nicht ersetzen: was die Verwaltung nach 
dem Prinzip der gesetzmäßigen Verwaltung (oben Anm. b) nicht darf, darf 
sie unter keinen Umständen, auch nicht unter solchen, in denen ihre Organe 
einen Notstand erblicken. Sie hat kein Recht, das Recht zu brechen. Wenn 
ferner die Legislative „verfassungswidrig handelt“, d. h. ein Gesetz ohne 
Wahrung der Formen der Verfassungsänderung erläßt, so ist dies gleichfalls 
ein durch keinen „Notstand“ zu rechtfertigendes Unrecht, freilich eines, 
dessen Begehung der Begehende lediglich vor sich selbst zu verantworten 
bat, indem es — nach richtiger Ansicht, vgl. unten $ 173 — den Behörden 
und Untertanen nicht zusteht, Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu 
prüfen, Die auf naturrechtlichem Boden erwachsene (O. Mayer, Verwalt.R.
	        
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