Full text: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts.

388 Zweiter Teil. Zweites Buch. $ 106. 
Aber für die Entwicklung des konstitutionellen Staatslebens ist 
die Selbstverwaltung (im politischen Sinne) ein nicht minder not- 
wendiges Element. Indem sie die Angehörigen der verschiedenen 
gesellschaftlichen Klassen zu einer gemeinsamen Tätigkeit heran- 
zieht, trägt sie dazu bei, die Gegensätze unter denselben zu über- 
winden. Indem sie die Staatsangehörigen zu regelmäßiger Be- 
teiligung an den Staatsgeschäften zwingt, erzeugt sie in ihnen den 
Staatssinn und die politische Bildung, welche die notwendigen 
Grundlagen des konstitutionellen Staatslebens sind. Indem sie die 
Erledigung vielfacher Verwaltungsangelegenheiten in die Hände 
von Personen legt, welche von der Zentralregierung unabhängig 
sind, macht sie eine schrankenlose Herrschaft derselben unmöglich 
und verhindert die Handhabung der Staatsgewalt im Sinne der 
regierenden Partei !*. 
Die Tätigkeit der Vereine fällt nicht unter den Begriff der 
Selbstverwaltung. Vereine sind überhaupt keine Verwaltungsorgane 
im staatsrechtlichen Sinne’®,. Auch diejenigen Vereine, welche 
Korporationsrechte besitzen oder zur Verwirklichung öffentlicher 
Interessen tätig sind, bilden keine Gliederungen der staatlichen 
Verwaltungsorganisation. Nur einzelne Korporationen, welche zur 
Erfüllung staatlicher Aufgaben durch Staatsgesetze gebildet und 
mit obrigkeitlichen Befugnissen ausgestattet sind (Deichverbände, 
Innungen, Krankenkassen, Berufsgenossenschaften bei der Unfall- 
versicherung), können als dem Organismus der Staatsverwaltung 
eingefügte Rechtssubjekte betrachtet werden!®. Dasselbe gilt von 
den vom Staat bei Erfüllung gewisser von ihm gewollter Zwecke 
errichteten und mit besonderer Rechtssubjektivität ausgestatteten 
öffentlichen Anstalten, z. B. den öffentlichen Feuerversicherungs- 
1 Es ist das Hauptverdienst von Gneist, auf die Notwendigkeit der 
Selbstverwaltung für das konstitutionelle Staatsleben hingewiesen zu haben. 
Vgl. die B 53 N. 2 angeführten Schriften über englisches Verwaltungsrecht. 
Ferner: Die preußische Kreisordnung, Berlin 1870. Der Rechtsstaat, 2. Aufl., 
Berlin 1879. 
15 Die Vereine werden als Organe der Selbstverwaltung im weiteren 
Sinne oder der freien Verwaltung betrachtet von L. v. Stein, Verwaltungs- 
lehre T.I. Abt. III, Handb. T. 1 68 ff. und v. Stengel, Organisation 14, Ver- 
waltungsrecht 112 ff. Dieser Auffassung kann nicht beigetreten werden. 
Allerdings ist es möglich, daß gewisse Ziele, welche den Gegenstand staat- 
licher und kommunaler Tätigkeit bilden, auch von Vereinen verfolgt werden. 
Aber die Stellung derselben zum einzelnen ist von der der politischen Ver- 
bände durchaus verschieden. Die Zugehörigkeit zu einem Verein beruht 
nicht auf gesetzlichen Vorschriften, sondern auf freiwilligem Beitritt, und 
die Vereine entbehren durchaus der für die politischen Gemeinwesen charak- 
teristischen obrigkeitlichen Zwangsgewalt gegenüber ihren Mitgliedern. 
16 (Selbstverwaltungskörper zu Spezialzwecken, so genannt im 
Gegensatz zu den Gemeinden und weiteren Kommunalverbänden mit ihrem 
umfassenderen, allgemein gearteten Wirkungskreis. Die Erscheinung 
solcher Spezialselbstverwaltungskörper — vgl. noch als Beispiele: öffent- 
liche \Wassergenossenschaften, Wege-, Schul- und Armenverbände — ist 
in Wahrheit nicht vereinzelt, sondern im positiven Recht der Gegenwart 
schr häufig.]
	        
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