Die Organe. $ 120. 473
Wie jeder Staatf, so ist auch das Reich als solches, als
rechtsfüähiges Gemeinwesen, Subjekt seiner Gewalt: die Reichs-
gewalt gehört dem Reiche, niemand sonst. Wer aber ist Träger&
er Reichsgewalt?
Träger ist soviel wie oberstes Organ. Als ursprüngliche
(primäre) Organe des Reichs sind zunächst zu bezeichnen die
ei großen politischen Machtfaktoren, welchen dieses Reich sein
Dasein dankt: die Gesamtheit der Einzelstaaten, unter ihnen in
seiner Sonder- und potenzierten Machtstellung der preußische
Staat, endlich das deutsche Volk als Ganzes, geeint und erstarkt
zur Nation. Diese lebendigen Kraftquellen der Reichsgewalt
reden und handeln nun nicht unmittelbar selbst, sondern durch
weitere (sekundärei) Willensträger: die Staatengesamtheit durch
den Bundesrat, Preußen durch das Kaisertum, die Nation
durch den Reichstag. Auf diese drei Verfassungseinrichtungen
wird die Bszeichnung „oberste Reichsorgane“ im engeren und
eigentlichen Sinne angewendet. Das oberste der drei Organe ist,
nach dem ganzen Aufbau und nach der Absicht der Gründer
des Reichs die Gesamtheit der Staaten. Bei dieser und
der sie verkörpernden Versammlung, dem Bundesrat, ruht die
höchste Gewalt im Reiche; sie hat im Zweifelsfalle die Vermutung
der Zuständigkeit für sich, sie ist der Träger der Reichs-
gewalt!. Bedenkt man, daß der Bundesrat von den Regierungen
der Einzelstaaten beschickt wird, daß das Recht jedes Staates
auf Sitz und Stimme im Bundesrat ausschließlich und allein von
seiner Regierung ausgeübt wirdk, daß die Mitglieder des Bundes-
rates nichts anderes sind als der Mund der sie entsendenden
Regierungen, so ist es, jedenfalls im Effekt, nicht unrichtig, wenn
man den Inbegriff der Staatenregierungen einerseits der Staaten-
gesamtheit, andererseits dem sie darstellenden Bundesrat sub-
stituiert und so zu dem, von dem amtlichen wie von dem wissen-
schaftlichen Sprachgebrauch adoptierten Satze gelangt: Träger
der Reichsgewalt ist die Gesamtheit der ver-
bündeten Regierungen?. Nur muß man sich dann darüber
im Klaren bleiben, daß dieses „Verbündungsverhältnis“ unter
den Regierungen kein besonderes, von dem Bunde, als welchen
das Reich darstellt, verschiedenes Rechtsverhältnis ist, (kein
95 99 Den 14; v. Gerber, Grundzüge des DStR 251, Anschütz, Enzykl.
‚98.
8 Oben $5 Anm. a. Anschütz, Enzykl. 25 ff.
h Jellinek, Staatal. 546 ff.
i Jellinek, a. a. O.
I Anschütz, Enzykl. 93, 94; Hubrich im HbdP 1 85.
k Unten $ 123, S. 483 N. 3, 485.
® So ist insbesondere der bekannte Ausspruch Bismarcks gemeint: „Die
Souveränetät ruht nicht beim Kaiser, sie ruht bei der Gesamtheit der ver-
bündeten Regierungen“ (vgl. unten Anm.8). Übereinstimmend G. Meyer in der
Vorauflage $120 Nr,2 (und schon in seinen Grundzügen des Norddeutschen