Full text: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts.

902 Zweiter Teil. Zweites Buch. $ 128. 
Einrichtung des Reiches. Demgemäß nimmt er im Deutschen 
Reiche die gleiche Stellung ein wie die Landtage in den einzelnen 
Staaten] Ihm steht ein Mitwirkungsrecht bei der 
Gesetzgebung und bei gewissen wichtigen Akten 
der Verwaltung, insbesondere der Finanzverwaltung zu, 
deren Erledigung in den Formen der Gesetzgebung erfolgt. Zu 
den letzteren gehören die Festsetzung des Reichhaushaltetats, die 
Ermächtigung zur Aufnahme von Anleihen und Übernahme von 
Garantieen, Beschlüsse über Bau und Konzessionierung von Eisen- 
bahnen. Als Ausfluß der Gesetzgebungsbefugnisse des Reichs- 
tages erscheint auch ein Recht, solche völkerrechtliche Verträge 
zu genehmigen, deren Bestimmungen in den Bereich der Gesetz- 
gebung eingreifen. Der Reichstag übt ein Recht der Kontrolle 
über die Reichsverwaltung aus. Dieses äußert sich in der 
Genehmigung von gewissen Verwaltungsakten, z. B. von Ver- 
ordnungen, in dem Recht auf Berichte der Regierung über einzelne 
Verwaltungstätigkeiten und Verwaltungszweige und in dem An- 
spruch darauf, daß die Reichsfinanzverwaltung dem Reichstag all- 
jährlich behufs Erteilung der Entlastung Rechnung legt. 
Dem Reichstag ist ferner durch eine ausdrückliche Bestimmung 
der RV®? die Befugnis beigelegt worden, an ihn gerichtete 
Petitionen dem Bundesrate bzw. Reichskanzler zu überweisen. 
Dagegen schweigt die Verfassung über. das Recht, Adressen 
zu beschließen und Interpellationen® an die Vertreter der 
Reichsregierung zu richten. Nichsdestoweniger werden beide Be- 
fugnisse vom Reichstage ausgeübt®. Die Adressen sind bisher 
Vgl. hierzu und über den Begriff der Volksvertretung oben $ 96 S.329, 330, 
05 8. 370. . 
ö % Vgl. oben $ 96. Viele Bestimmungen der preußischen Verf. über den 
preußischen Landtag sind wörtlich in die RV übergegangen. Vgl. die Zu- 
sammenstellung bei Laband Bd. I $ 32 S. 293 N. 1. 
8 RV Art. 28. 
4 Mit Unrecht nimmt P. Hensel, AnnDR 1882 15, an, die Petitionen 
seien stets dem Bundesrate zu überweisen und würden an den Reichskanzler 
nur als Vorsitzenden desselben gerichtet. An den Bundesrat (zu Händen 
seines Vorsitzenden, des Reichskanzlers) gelangen nur solche Petitionen, 
welche zu seinem Ressort gehören; Petitionen, welche in den eigenen Ge- 
schäftsebereich des Reichskanzlers (als des verantwortlichen Reichsministers 
und Chefs der Reichsverwaltung) hineinfallen, kommen nur zu seiner Kog- 
nition und werden von ihm allein erledigt, 
5 Über das Petitions-, Adreß- und Interpellationsrecht vgl. auch oben 
8 96 S. 332, 383; Literatur über das Interpellationsrecht — auch des Reichs- 
tags — das. Anm. 12. Dazu Wagner in AnnDR 1908 35 ff., 128 ff. 
$ Der verfassungsberatende Reichstag hielt die beiden Rechte für 
selbstverständlich und lehnte Auträge, die sie ausdrücklich gewährleisten 
wollten, ab. Sten. Ber. 445 ff. Vgl. Dambitsch, RV 435, 436, 438, Wagner 
in AnnDR 1906 136, 139. Beide Befugnisse sind vom Reichstag bisher un- 
angefochten ausgeübt worden; sie ruhen auf Gewohnheitsrecht. Näher ge- 
regelt sind sie durch die RTGO $ 3laffl., 67, 68. Die GO unterscheidet 
„Anfragen“ und eigentliche „Interpellationen“. Anfragen wie Interpellationen 
sind an den Reichskanzler zurichten. Das ist konstitutionell korrekt; denn
	        
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