Full text: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts.

Die Organe. $ 135. 23 
Das gewaltige, an Macht, Pflichten und Verantwortung reiche Amt 
hat sich schrittweise entwickelt. Ursprünglich war es lediglich als Bundes- 
ratspräsidium gedacht, Alles weitere ist später hinzugekommen; das 
wichtigste, die ministerielle Eigenschaft des Kanzlers, durch einen Beschluß 
des verfassungberatenden Reichstags. Damit verhält es sich folgender- 
maßen: Der „Bundeskanzler“, wie der Reichskanzler zur Zeit des Nord- 
deutschen Bundes hieß, erscheint schon in dem preußischen Entwurf der 
nordd. BV vom 15. Dezember 1866, dessen Art. 13 lautet: „Das Präsidium 
ernennt den Bundeskanzler, welcher im Bundesrate den Vorsitz führt und 
die Geschäfte leitet.“ Der Bundeskanzler ist hiernach der stimmführende 
Bundesratsbevollmächtigte Preußens, der, vergleichbar dem Präsidial- 
esandten im alten Bundestagec, als erster Vertreter der Vormacht deren 
timme und den Vorsitz führen sollte. Er war also kein Bundesbeamter, 
am wenigsten ein selbständiger und verantwortlicher Bundesminister, 
sondern ein abhängiges Organ der preußischen Staatsregierungd, dazu be- 
stimmt, nach den Anweisungen dieser Regierung die Mitgliedschafts- und 
Präsidialrechte Preußens im Bundesrate auszuüben. An dieser Stellun 
wurde dadurch nichts geändert, daß die verbündeten Regierungen dem Art. 1 
des Entwurfs — „Dem Präsidium steht die Ausfertigung und Verkündigung 
der Bundesgesetze und die Überwachung der Ausführung derselben zu“ — 
den Satz anfügten: „Die hiernach von dem Präsidium ausgehenden An- 
ordnungen werden im Namen des Bundes erlassen und von dem Bundes- 
kanzler mitunterzeichnet.*e Denn die hier dem Bundeskanzler zur Pflicht 
emachte Mitunterzeichnung ist nur Beglaubigung, keine verantwort- 
liche Gegenzeichnung, sie macht den Kanzler nicht zum Minister des Prä- 
sidiumsf. 
Der Bundeskanzler der Entwürfe der nordd. BV war also dem Reichs- 
tage nicht verantwortlich, Aber auch sonst fehlte es an einem dem Reichs- 
tage verantwortlichen ministeriellen Organ. Der als oberster regierender 
Faktor des Bundes gedachte Bundesrat war niemandem, und die preußische 
Regierung, welche in weitem sachlichen Umfange den Bund hegemonisch 
beherrschen sollteg, war hierfür lediglich ihrem Landtage verantwortlich. 
Es fehlte mithin überhaupt an einer den konstitutionellen Grundsätzen ent- 
sprechenden, d. h. dem Bundesparlament gegenübergestellten, ihm verantwort- 
lichen Bundesregierung. Infolgedessen war das Parlament, also der Reichsta 
nach den Entwürfen auf die Mitwirkung bei der Gesetzgebung beschränkt, au 
die vollziehende Gewalt des Bundes dagegen ohne Einfluß. Begreiflicher- 
weise sah der verfassungberatende Reichstag hierin einen Mangel. Das 
Bestreben, diesem Mangel abzuhelfen, führte zu lebhaften Auseinander- 
b Oben $ 64 Anm. b, c. 
c Oben & 42 S. 125. Bismarck im Reichstage, 5. März 1878 (Sten. Ber. 
1, 342): „Als der Verfassungsentwurf für den Norddeutschen Bund zuerst zur 
Revision gelangte, da war der Reichskanzler durchaus nicht mit den be- 
deutenden Attributionen ausgestattet, die ihm durch den einfachen Satz, der 
sich heute in Art. 17 der Verfassung befindet, zugeschoben sind. Er ist 
damals durch eine Abstimmung in das jetzige Maß hineingewachsen, 
während er vorher einfach das war, was man In Frankfurt in bundestäg- 
lichen Zeiten einen Präsidialgesandten nannte, der seine Instruktionen 
von dem preußischen Minister der auswärtigen Angelegenheiten zu em- 
pfangen hatte und der nebenher das Präsidium im Bundesrat hatte.“ 
4 „Unterstaatssekretär für deutsche Angelegenheiten im auswärtigen 
preußischen Ministerium“ wie Bismarck in der vorstehend Anm. c zitierten 
ede sa 
e Oben $ 127 S. 497 Anm. h. 
f Haenel, Studien 2 19; Preuß, ZStW 45 431; Rosenthal, Die Reichs- 
regierung 12. 
8 Oben $ 127 8. 494 fl.
	        
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