Die Organe. $ 185. 527
2. DerReichskanzler als kaiserlicher Minister. —
In dieser Eigenschaft (geschaffen durch die lex Bennigsen, vgl.
oben 524) ist der Reichskanzler zunächst Reichsbeamter (vgl.
unten $ 144). Er ist ferner Minister. Das heißt: auf sein
Verhältnis einerseits zum Kaiser, andrerseits zum Bundesrat und
zum Reichstag finden die Grundsätze Anwendung, welche die
Stellung der Minister in den deutschen Einzelstaaten regeln (vgl.
oben $ 84 S. 276 ff). Der Kaiser erscheint in diesem Be-
tracht als der Monarch, der Reichskanzler als Minister einer kon-
stitutionellen Einherrschaft, deren Volksvertretung durch Bundes-
rat und Reichstag gebildet wird. Wie jeder Minister, so ist auch
der Reichskanzler dem Monarchen unmittelbar untergeordnet. Wie
die Minister der Einzelstaaten von ihrem Monarchen, so wird der
Reichskanzler vom Kaiser ernannt und entlassen. Was in den
Einzelstaaten auf Grund allgemeiner konstitutioneller Prinzipien
kraft ungeschriebenen Rechts gilt, ist im Reich für den Reichs-
kanzler und seine Stellvertreter, die Staatssekretäre (unten $ 135 a)
ausdrücklich vorgeschrieben: Reichskanzler und Staatssekretäre
können ihre Entlassung jederzeit erhalten und fordernp. Der
Einfluß des Reichstags auf die Ernennung und Entlassung des
Reichskanzlers ist nicht größer als der analoge Einfluß der Land-
tage, d. h. er ist staatsrechtlich überhaupt nicht vorhanden, das
System der parlamentarischen Regierung (oben $ 96 S. 835) gilt
im Reiche sowenig wie in den Einzelstaaten.
Der Satz der RV, Art. 17: „Die Anordnungen und Ver-
fügungen des Kaisers bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Gegen-
zeichnung des Reichskanzlers, welcher dadurch die Verantwortlich-
keit übernimmt“ ist ebenso auszulegen wie die Parallelstellen der
Landesverfassungen, denen er nachgebildet ist (vgl. insbesondere
preußische VU Art. 44). „Gültigkeit“ bedeutet soviel wie Voll-
ziehbarkeit. Der Wille des Kaisers wird erst dadurch vollzieh-
bar, daß der Wille des Kanzlers sich ihm anschließt. Regelmäßig
wird der Anschluß bekundet durch Gegenzeichnung (Kontrasigna-
tur) des kaiserlichen Akts. Die Gegenzeichnung wirkt jedoch nur
deklaratorisch, nicht konstitutiv: was die Verantwortlichkeit er-
zeugt, ist nicht die Gegenzeichnung, vielmehr die durch sie (un-
widerlogich) bezeugte Billigung des kaiserlichen Willens «.
Die Billigung braucht nicht notwendig durch Kontrasignatur —
also ausdrücklich —, sie kann auch stillschweigend erklärt werden:
durch Übernahme und Durchführung des Vollzugs der kaiser-
lichen Anordnung, überhaupt durch Verbleiben im Amte nach und
trotz Kenntnis der Anordnung. Die Billigung gilt stets als das
Ergebnis eines rechtlich freien Entschlusses, tür dessen Fassung
und Folgen der Reichskanzler so verantwortlich ist, als hätte er
das, was er gebilligt hat, selbst getan. Durch den Befehl des
pP Reichsbeamtengesetz vom $1. März 1873/18. Mai 1907, $ 85.
4 Vgl. oben $ 84 Anm. 20.
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