640 Zweiter Teil. Drittes Buch. 8 155.
stammt, auf welcher Autorität seine Geltung beruht, welches Ge-
wand er trägt. Rechtssatz (Rechtsnorm) aber ist jede Vorschrift,
welche die Willensmacht mehrerer Willensträger (Personen) wechsel-
seitig abgrenzt, vorausgesetzt, daß ihre Befolgung durch staat-
lichen Zwang gesichert ist. Gesetz und (objektives) Recht sind
demnach, wenn man „Gesetz“ im materiellen Sinne versteht,
Wechselbegriffea. Das Gesetz im materiellen Sinne ist ein Begriff
nicht eigentlich des Staatsrechts, vielmehr der allgemeinen
Rechtslehre, deren Aufgabe es ist, ihn zu fundamentieren und im
einzelnen dogmatisch zu entwickeln, insbesondere zu zeigen, worin
das Wesen der Rechtsnorm im Unterschied von Normen anderer
Art & B. den Geboten der Ethik, der Sitte, des Anstandes)
eruht.
In der Regel wird das Gesetz im materiellen Sinne sich auf
eine unbestimmte Vielzahl von Fällen, nämlich auf alle beziehen,
in denen der von ihm abstrakt bestimmte Tatbestand zutrifft, es
wird, anders ausgedrückt, allgemein gefaßt sein. Doch duldet
diese Regel Ausnahmen, die Allgemeinheit ist kein notwendiges
Merkmal des materiellen Gesetzesbegriffes. Es kommen legislative
Akte vor, welche lediglich ein einzelnes Rechtsverhältnis, einen
individuellen Fall ordnen und ihre Kraft an diesem Falle er-
schöpfen: Individualgesetze (z.B. Anderung des Thronfolge-
rechts für einen einzelnen Fall, einmalige Verlängerung der
Legislaturperiode eines Parlaments). Sie sind Gesetze in jedem,
nicht sowohl im formellen als im materiellen Sinne: Rechts-
normen.b]
tn m —— 0
a Der materielle Gesetzesbegriff ist erhaben über den Wandel der
Staatsformen und Staatsverfassungen, er ist auch unabhängig von dem
Wechsel der Auffassungen über das Verhältnis des Rechtes zum Staat, Er
ist ein Erzeugnis des Denkens nicht über den Staat, sondern über das Recht,
Gesetze im materiellen Sinne hat es immer gegeben, wie auch jene Formen,
Verfassungen und Auffassungen beschaffen waren. Ebendeshalb zieht sich
denn auch der materielle Gesetzesbegriff, die Gleichsetzung von „Gesetz*
und „Recht“ durch alte und neue Zeiten hindurch. Sie spricht aus der Be-
griffsbestimmung der Digesten 1.7 D. 1, 3 („legis virtus haec est: imperare,
vetare, permittere, punire“; — diese vier Zeitwörter umschreiben das Wesen
der Rechtsnorm) wie aus den Quellen des alten deutschen Rechts („Leges“:
lex ist das Recht, nach dem das Volk lebt), sie kommt aber ebenso, viel-
mehr noch schärfer und klarer zum Ausdruck in dem Sprachgebrauch unserer
modernen Gesetzbücher, wonach „Gesetz im Sinne dieses Gesetzes jede
Rechtsnorm ist“: vgl. EG zum BGB Art. 2, zur ZPO Art. 12.
b A. M. G. Meyer in den Vorauflagen (6. Aufl. 551, 554) und 2. f. d.
Privat- und öffentl. Recht 8 1ff.; er sah in den Individualgesetzen unter-
schiedslos „Verfügungen“ (d. h. Verwaltungsakte) in Gesetzesform, Gesetze
im rein formellen, nicht im materiellen Sinne. Ebenso O. Mayer, VR 1. Aufl.
1 91 und (nicht so entschieden) 2. Aufl. 1 75; Piloty bei Seydel-Piloty 1838
N. 7 (abweichend von Seydel), Die im Text vertretene Ansicht ist heute
herrschend. Vgl. Laband 2 2, 3; Jellinek, Ges. und Verordn. 236 ff.; Rosin,
PolVRAf.; Gierke, DPrivR1 128; Seydel Bay. StR (2. Aufl.)2309; Anschütz,
Krit. Studien 22 f£.; Fleischmann im HdbP 1 271 u. a. !