54 Einleitung. $ 14.
Die Entstehung eines Bundesstaates kann ebenso wie die
eines Staates auf sehr verschiedene Weise stattfinden®. Von Be-
deutung sind von den rechtlich faßbaren und bestimmbaren Mög-
lichkeiten namentlich zwei. Ein Bundesstaat kann sich sowohl
durch Lockerung eines Einheitsstaates als durch Zusammenschließen
mehrerer völlig unabhängiger oder nur in einem Staatenbunde
befindlicher Staaten bilden. In letzterem Falle kann die Verfassung
des Bundes durch Vereinbarung (Gesamtakt) der Einzelstaaten
festgestellt werdent, und die Einzelstaaten behalten nach Konsti-
tuierung des Bundes alle diejenigen ihrer bisherigen Hoheitsrechte,
welche nicht auf den Bund übertragen sind.
e Es ist daher nicht möglich, diese Frage durch eine allgemeine Formel
zu lösen, wie Liebe, Staatsrechtliche Studien 16 ff. und Bake, Beschouwingen
157 ff. versuchen.
t Die Möglichkeit der Entstehung einer bundesstaatlichen Verfassung
durch Vereinbarung stellen in Abrede Jellinek, System 265 ff., Staatsl. 774 ff. ;
Liebe, Z.StaatsW. 38 637 ff.; Gierke, SchmollereJ. 7 1158 ff.; Borel, Etude 71ff.
Diese Ansicht beruht aber auf einer Verwechslung der vertragsmäßigen
Entstehung mit der vertragsmäßigen Natur des Rechtsverhältnisses,. 1.
Haenel, Vertragsmäßige Elemente 31 ffl.; Brie, GrünhutsZ. 11 149 ff.; Brock.
hausen, Vereinigung und Trennung von Gemeinden 5ö3ff.; Le Fur, Etat
Federal 560 fl.; v. Stengel, SchmollersJ. (189%) 1126 ff.; Rehm, Staatsl. 93;
Triepel, Völkerrecht und Landesrecht (1899) 68ff.; Anschütz, Enzyklop.
14, 16, 64 fl. Die übereinstimmende Willenserklärung mehrerer Staaten,
kraft deren diese Staaten sich zu einem Bundesstaate zusammenschließen,
ist nicht, wie meistens gesagt wird und wie auch die Vorauflagen (6. A. 49
u. Anm. 18) sapten, ein „Vertrag“, sondern ein Rechtsakt anderer und eigener
Art, der allerdings mit dem Vertrage gemeinsam hat, daß er communi con-
sensu Mehrerer zustandekommt. Unter „Vertrag“ versteht man nur diejenige
übereinstimmende Willenserklärung, welche auf Begründung, Anderung oder
Beendigung eines Rechtsverhältnisses gerichtet ist. Hier aber handelt es
sich nicht um Begründung eines Rechtsverhältnisses — der Bundesstaat
ist kein „Rechtsverhältnis“ —, sondern um die Schaffung eines neuen Rechts-
subjekts und objektiven Rechts, welches diesem Rechtssubjekt, dem Bundes-
staate, als Verfassung dienen soll. Es ist daher Begriffsverwirrung, Akte
dieser Art als Verträge zu bezeichnen; man muß einen besonderen Namen
für diese besondere Sache einführen. Vorgeschlagen sind dafür „Verein-
barung“ und „Gesamtakt“: Jellinek, System 204 ff., 321; Kuntze, Der Gesamt-
akt (1892) 27 #., 80 ff.; Binding, Gründung des Nordd. Bundes 69, 70; Triepel
a. a. O. 49 ff, 59 ff., 68 ff.; Auschütz a. a. O. und Pr.V.Bl. 22 88 ff.; Menzel,
Die Arbeiterversicherung nach österr. Recht (1893) 115 ff.; Fleiner, Instit.
82ff. (N. 44 mit weiteren Zitaten). Die Terminologie ist aber noch nicht
bis zur Einheitlichkeit gediehen. Vgl. unten $ 64 (Gründung des Nord-
deutschen Bundes).
ı Die Behauptung, daß auch in einem solchen Falle die Staaten im
Bundesstaate ihre Hoheitsrechte kraft einer Delegation des Bundes besäßen
Zorn, Z. StaatsW. 37 314 ff.; Ann.D.R. (1884) 459, Staatsr. 1 80ff.; Bake,
eschouwingen 178; Jellinek. Staatenverbindungen 44 fi., 271 ff.; Robinson,
2.StaatsW. 53 616), steht mit den historischen Tatsachen in Widerspruch.
Vgl. dagegen auch Brie, GrünhutsZ. 11 100, Theorie der Staatenverbindungen
108, Gierke, SchmollersJ. 7 1163 N. 3; Laband, St.R. 1 73 ff.