Die Funktionen. $ 1öo. 647
oder Entscheidungen (Urteilssprüche)y darstellen. Nach alledem
verhalten die beiden Gesetzesbegriffe sich zu einander nicht wie
zwei sich deckende, auch nicht wie zwei an Größe verschiedene
Kreise, von denen der größere den kleineren einschließt, sondern
wie zwei einander schneidende Kreise: was dem Bereiche des
einen angehört, kann, muß aber nicht auch in den des andern
fallen. Es gibt Gesetze, welche es sind und so heißen dem Inhalt
wie der Form nach (Gesetze im materiellen und formellen Sinne),
es gibt ferner solche, welche es nur dem Inhalt (Gesetze im rein
materiellen Sinne) und endlich solche, welche es nur der Form
nach sind (Gesetze im rein formellen Sinne).
Die Bedeutung der Lehre vom Gesetz im materiellen
und formellen Sinne liegt zunächst darin, daß sie den \Veg weist
zur Lösung eines der obersten Probleme des konstitutionellen
Staatsrechts, nämlich der Abgrenzung der Zuständigkeit zwischen
Exekutive und Legislative, Regierung und Volksvertretung. Diese
Abgrenzung ist auf den Gedanken gestellt, daß die Veränderung
des im Staate geltenden Rechts, also das Recht zur Gesetzgebung
im materiellen Sinne, ‘der Legislative grundsätzlich allein vor-
behalten ist (vgl. hierüber unten $ 157 S. 652 ff). Gesetze im
materiellen Sinne können also nur von der Legislative, im Wege
der formellen Gesetzgebung erlassen werden. Ausnahmen von
dieser Regel — Erlaß von Rechtssätzen auf einem andern Wege
als dem der formellen Gesetzgebung, insbesondere im Wege der
Verordnung — finden nur statt, insoweit ein formelles Gesetz
(Verfassung oder einfaches Gesetz) sie zuläßt. — Sodann ist die
hier erörterte Lehre von grundlegender Wichtigkeit für das Ver-
ständnis der rechtlichen Natur des Staatshaushaltplanes
(Etats, Budgets) und, im Zusammenhange hiermit, für die richtige’
Bestimmung des der Volksvertretung zustehenden Einnahme- und
Ausgabebewilligungsrechts.]
stellung dieses Planes „durch Gesetz“ fordern (RV Art. 61, Preuß. Verf. Art.99
vgl. hierüber, unten $5 204 fi). Andere Beispiele: die Aufnahme von An-
leihen oder Übernahme von Garantien „im Wege der Reichsgesetzgebung“
(RV Art. 73), die Erteilung einer Eisenbahnkonzession, die Verleihung der
Rechtsfähigkeit an Religionsgesellschaften durch Gesetz (RV Art. 41 Abs. 1,
Preuß. Verf. Art. 13). In Österreich ist die Errichtung von Fideikommissen,
in Belgien und Rumänien die Einbürgerung von Ausländern der Legislative
yorbehalten (Jellinek, Ges. und Verord. 251). Vgl. ferner Fleiner, Instit. 180
om. 23.
y Vgl. RV Art. 76 Abs. 2: danach sind Verfassungsstreitigkeiten in
solchen Staaten des Deutschen Reichs, in deren Verfassung nicht eine Be-
hörde zur Entscheidung solcher Streitigkeiten bestimmt ist, ... . „im Wege
der Reichsgesetzgebung zur Erledigung zu bringen“. Näheres hierüber
unten 8 212.
evel. hierüber oben Anm, x und unten & 204 ff., zur einstweiligen
grientiorung: Anschütz, Enzykl, 186—190; v. Seydel-Graßmann, Bay. StR