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Gewalt“ im Sinne des materiellen Gesetzesbegriffs (oben 639),
nicht bewirkt und ein Gesetz im formellen Sinne nur für diejenigen An-
elegenheiten notwendiß, sei, deren Regelung die Verfassung oder ein ein-
faches Gesetz ausdrücklich und speziell dem Gesetzgebungswege überweist.
Diese Theorie, wonach in der preußischen Verfassung die Gegenstände der
formellen Gesetzgebung namentlich aufgezählt sind („Enumerations-
theorie“, vgl. Anschütz, Gegenw. Theor. 35 tf.), scheitert schon daran, daß
unter den Bestimmungen, welche die Aufzählung enthalten sollen, eine fehlt,
welche sicherlich nicht fehlen würde, wenn der Gesetzgeber überhaupt eine
solche — vollständige — Aufzählung hätte liefern wollen: eine Bestimmung,
welche der Legislative die Regelung des Privatrechts überweist. Daraus
würde nach Arndt und Genossen folgen, daß in Preußen das Privatrecht
durch Verordnungen geregelt werden kann, eine Folgerung, durch deren
völli e Unannehmbarkeit die Unrichtigkeit der Prämisse dargetan wird (vgl.
Anschütz, a. a. O. 102fl.; Vierhaus, VerwArch 12 262, 263). — Eine Wider-
legung der genannten Schriftsteller und ihrer Theorien ist hier nicht möglich;
es muß in dieser Hinsicht auf die oben angeführten, die herrschende Meinung
verkörpernden Schriften, insbesondere auf Anschütz’s Gegenwärtige Theorien,
sowie auf die Voraufl. 562, 563 verwiesen werden.
Eine beachtenswerte Annäherung an die herrschende Meinung ist darin
zu erblicken, daß Arndt neuerdings (Komm. z. preuß,. Verf., 7. Autl. 94, 101,
VerwArch 17 357) zugesteht, daß in Preußen alle Normen, welche Freiheit
und Eigentum der Individuen „unmittelbar“ beschränken, nur im Wege der
Gesetzgebung erlassen werden dürfen. Die Einigung mit den Gegnern wäre
hergestellt, wenn er sich entschließen könnte, in seiner These das Wort „un-
mittelbar“ zu streichen. Es wäre dann zugegeben, daß in Preußen der Vor-
behalt der Legislative, wiewohl unausgesprochen, durch die sogenannte
„Freiheit- und Eigentumformel“ abgegrenzt sei und dieses Zugeständnis
würde sich — jedenfalls im Ergebnis — damit decken, was die herrschende
Meinung behauptet: Rechtssätze dürfen grundsätzlich nur von der Legis-
lative erlassen werden. Denn unter einem „Rechtssatz“ ist hier eine Norm
verstanden, weiche in Freiheit und Eigentum eingreift. Vgl oben im Text
sowie namentlich unten Anm, b und c.
Eine eigenartige Theorie über den „Vorbehalt des Gesetzes im preußischen
Verfassungsrecht“ stellt Thoma auf: Festschrift für Otto Mayer (1916), 167 ff.
Thoma will, hierin mit Arndt, Bornhak, Zorn (s8. oben) übereinstimmend, die
Begriffe „Gesetz“ und „gesetzgebende Gewalt“ im Art. 62 preuß. Verf.
formell verstanden wissen; danach bestimmt Art. 62 nur die Formation
der konstitutionellen Legislative, sagt aber über die ihr ausschließlich vor-
behaltene Zuständigkeit nichts aus. Soweit mit Arndt einig, trennt Thoma
sich von ihm, indem er ein Gesetz nicht bloß da für erforderlich erachtet,
wo die Verfassung den Gesetzgebungsweg ausdrücklich vorschreibt, sondern
auch überall, wo eine vor der Verfassung ergangene, in der GS verkündigte,
königliche Anordnung — einerlei wie sie sich nennt (Gesetz, Verordnung,
Kabinettsorder) und was sie enthält — abgeändert werden will (a.a. O. 197 £.).
Denn „die in der GS verkündigten kgl. Erlasse der absoluten Zeit haben
Vorrangskraft (formelle Gesetzeskraft) und können fortan nur mit Zustimmung
des Landtags abgeändert oder aufgehoben werden“ (S. 209, Eine Aus-
einandersetzung mit Thoma ist hier nicht möglich; sie darf auch deshalb
unterbleiben, weil Thoma selbst seiner Lehre nur geschichtliche Bedeutung
beilegt. Die von ihm behauptete Vorbehaltsgestaltung habe sich nämlich,
obwohl sie dem Sinne und Willen der Verfassung entspreche, „tatsächlich
nicht durchsetzen können“ (S. 211); sie sei gewo nheitsrechtlich durch die
in den deutschen Mittelstaaten bestehende, auf der Freiheit- und Eigentum-
formel (s. u. 656, 657) beruhende Gestaltung verdrängt worden (213,214). Für
das geltende preußische Staatsrecht stimmt also Thoma der herrschenden
Meinung zu.