676 Zweiter Teil. Drittes Buch. 8 161.
In den mittleren und kleineren deutschen Staaten steht das
Recht zum Erlaß von Polizeiverordnungen auch den Zentral-
behörden und dem Monarchen zu. Nach der preußischen Gesetz-
gebung ist das einschlägige Recht der Zentralbehörden (d.h. der
Minister sehr eng begrenzt® und an einem polizeilichen Ver-
ordnungsrecht des Königs fehlt es in Preußen ganz.]
Die orts- bzw. bezirkspolizeilichen Verordnungen dürfen nichts
bestimmen, was den bestehenden Gesetzen oder den Verordnungen
höherer Behörden widerspricht. Sie müssen den höheren Behörden
zur Kenntnisnahme vorgelegt werden. Nach einzelnen Gesetz-
gebungen sind sie überhaupt erst vollstreckbar, wenn die höhere
Behörde binnen bestimmter Zeit entweder keinen Widerspruch er-
hoben oder sie ausdrücklich bestätigt hat. Überall besitzen die
höheren Behörden die Befugnis, Verordnungen der niederen Stellen
außer Kraft zu setzen.
Durch diese Gesetzgebungen hat der Unterschied zwischen
kriminellem und polizeilichem Strafrecht alle Be-
deutung verloreng. Das Reichsstrafgesetzbuch enthält neben
den strafrechtlichen Bestimmungen solche von unzweifelhaft polizei-
lichem Charakter”. Durch polizeiliche Verordnungen werden
nicht bloß Handlungen, welche eine Gefahr für die öffentliche
Sicherheit enthalten, sondern auch solche, welche wirkliche Rechts-
verletzungen sind, mit Strafe bedroht. Die Schranke für Ver-
ordnungen dieser Art liegt lediglich in der örtlichen Ausdehnung
des Geltungsbereiches und in der Höhe des Strafmaßes. Ebenso
ist das abgekürzte Verfahren, welches für die Aburteilung gewisser
Vergehen besteht, nicht durch die besondere materielle Beschaffen-
heit derselben, sondern lediglich durch die Höhe der Strafe
edingt.
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[Notverordnungen! sind Verordnungen mit formeller Ge-
setzeskraft (gesetzvertretende Verordnungen), welche vom Monarchen
erlassen werden, wenn ein dringender Notstand das Tätigwerden
—
° LVG vom 30. Juli 1883, $ 136; vgl. Rosin, a. a. O. 188 ff.
8 Vgl. Rosin, Art. Polizeistrafrecht im WStVR 8 112ff. (Literatur das.
118). — J. Goldschmidt, Das Verwaltungsstrafrecht, 1902, vgl. auch desselben
Verfassers Beitrag zur Festgabe der Berliner Juristen- Gesellschaft für
Dr. Richard Koch, 1903 [weitere Schriften Goldschmidts siehe bei Rosin, a.
a. O. 128] hat den Versuch unternommen, die herrschende Theorie über die
rechtliche Natur des sogenannten Polizeiunrechts zu widerlegen und den
sonst fast allgemein geleugneten begrifflichen Gegensatz zwischen „Justiz-*
und „Verwaltungsstrafrecht* auf neuer Grundlage zu rekonstruieren. Vgl.
hingegen aber die schwerwiegenden kritischen Bedenken O. Mayers, VerwArch
11 348 ff.; Lamps, ArchÖffR 18 104 fi.; Fleiners, Instit. 206; Schultzensteins,
VerwArch 11 149; Thoma, Polizeibefehl im badischen Recht 1 85.
' Namentlich im Abschnitt 27 „gemeingefährliche Verbrechen und Ver-
gehen“ und im Abschnitt 29 „Übertretungen‘“.
! Bischof, Das Notrecht der Staatsgewalt in Gesetzgebung und Regie-