Full text: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts.

Zweiter Teil. Drittes Buch. $ 163. 
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4. Nach erfolgter Einigung des Bundesrates und des Reichs- 
tags über den Inhalt des zu erlassenden Gesetzes gelangt das 
letztere — jetzt noch immer ein Entwurf, kein fertiges Gesetz — 
an den Bundesrat, der nun gemäß RV Art. 7 Abs. 1 Ziff. 1 „über 
die von dem Reichstage gefaßten Beschlüsse“ zu beschließen, d.h. 
sich darüber schlüssig zu machen hat, ob er dem vereinbarten 
Gesetzesentwurf seine Sanktion erteilen will. In bezug auf die 
Fragen, ob die Sanktion nur ganz oder auch teilweise gegeben, 
verweigert, mit Bedingungen verbunden, verschoben, zurück- 
enommen werden kann, gelten dieselben Grundsätze, welche oben 
N 16 S. 663 über das Sanktionsrecht des Monarchen in den 
inzelstaaten entwickelt worden sind: der Bundesrat ist in dieser 
Hinsicht so gestellt wie der Monarch im Prozesse der Landes- 
gesetzgebung®. Insbesondere steht es dem Bundesrate zu, die 
Sanktion zu verweigern und den Entschluß darüber, ob er sie 
verweigern oder erteilen will, beliebig lange — auch über den 
Schluß der Sitzungs-, ja der Legislaturperiode des Reichstags 
hinaus — aufzuschieben d, 
Reichstagsverhandlungen jetzt stets durch den Reichskanzler oder — die 
überwiegende Regel! — den Staatssekretär, in dessen Ressort der Ver- 
handlungsgegenstand fällt. Vgl. oben $ 132 8.514 Anm, 14. 
° Ein staatsrechtlich wie politisch wichtiger Unterschied zwischen der 
gesetzgeberischen Tatigkeit des Bundesrates und der des einzelstaatlichen 
onarchen besteht jedoch darin, daß die letztere (vgl. oben $ 158 S. 665), 
nicht aber die erstere ministerieller Verantwortlichkeit unterstellt ist (vgl. oben 
8 135 S. 528). Der Reichskanzler kann nicht dafür verantwortlich gemacht 
werden, daß der Bundesrat die Sanktion eines Gesetzes erteilt oder ver- 
weigert, aufschiebt oder zyurücknimmt. 
Rauschenberger, ArchÖffR 81 254 erklärt ohne einleuchtende Begründung 
den Sanktionsbeschluß des Bundesrats für unwiderruflich. Nach Schoen, 
Hdb. d. Pol. 1 290, ist er widerruflich, aber nur solange, „als das Gesetz 
noch nicht an den Kaiser (zur Ausfertigung) weitergegeben ıst“. Auch das 
ist unzutreffend. Die Sanktion kann widerrufen werden, solange das Gesetz 
noch nicht für den Sanktionierenden selbst verbindlich, d. h. solange es nicht 
verkündigt ist (vgl. oben $ 158 8. 6641. 
d Vgl. oben $ 158 S.66#3 Anm. c und die dort angeführte Literatur, 
dazu noch Laband, DJZ 1904 321 fl. G. Meyer vertrat seine Ansicht, daß 
die Sanktion spätestens bis zum Beginn der neuen Legislaturperiode des 
Parlaments erfolgen müsse (oben a. a. O. Anm. c), folgerichtigerweise auch 
für das Reichsrecht. Dagegen Laband, a. a. O0. StR2 35, 36 und die übrigen 
Vertreter der herrsch. M. ıoben a. a. OÖ. Anm.c). Wenn Laband, a. a. 0. 326 
hervorhebt, daß der Bundesrat das Recht, die Sanktion aufzuschieben, „nur 
nach Treu und Glauben, rebus sic stantibus und nicht intempestive“ aus- 
üben dürfe, so will er hiermit wohl nur eine Regel politischer Ethik und 
keine Rechtspflicht aussprechen. 
Die Staatspraxis steht auf dem Standpunkte unbeschränkter Zulässigkeit 
des Sanktionsaufschubs. Nach Beginn einer neuen Sitzungsperiode ist pu- 
bliziert das Reiclsgesetz, betr. die Stimmzettel für öffentliche Wahlen, vom 
12. März 1884; nach Beginn einer neuen Legislaturperiode das Reichsgesetz 
wegen Ergänzung des 8 100e der Gewerbeordnung vom 8. Dez. 1884, das 
Reichsgesetz über Aufhebung des Gesetzes, betr. die unbefugte Ausübung 
von Kirchenämtern, vom 6. Mai 1890, die Militärstrafgerichtsordnung vom
	        
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