Full text: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts.

Die Funktionen. $ 164. 691 
Reichsverfassung ändernf, niemand eine solche Änderung fordern, 
verbieten oder von seiner Zustimmung abhängig machen. Ins- 
besondere steht den Gliedern des Reichs, den Einzelstaaten als 
solchen, außerhalb des zur Geltendmachung ihrer Interessen be- 
stimmten Reichsorganes, des Bundesrates, ein Recht des Wider- 
spruchs (Veto) gegen Reichsverfassungsänderungen nicht zu. Dies 
gilt auch für Verfassungsänderungen, welche unter Art. 78 Abs. 2 
RV fallen (vgl. unten 692 Anm. h, 698). 
2. Die verfassungändernde Gewalt des Reiches ist auch gegen- 
ständlich unbeschränkt. Auf dem durch Art. 78 bezeichneten 
Wege und nur auf diesem Wege können alle denkbaren und 
f Wenn schon die Abänderung der RV nur durch die gesetzgebenden 
Faktoren des Reichs gemäß Art. 78 erfolgen kann, so ist ihre vollständi 
Aufhebung durch andere als diese Faktoren erst recht nicht möglich. Die in 
ewissen Kreisen anscheinend nicht unbeliebte und unter Ausschluß der Offent- 
ichkeit gepflegte Ansicht, wonach die verbündeten Regierungen durch Ein- 
stimmigkeitserklärung (durch einen „neuen Bundesvertrag“, wie man es nennt) 
das bestehende Reich auflösen und durch ein neues mit einer anderen Ver- 
fassung zu ersetzen befugt seien, ist von v. Jagemann, RV 30, an das lite- 
rarische Tageslicht gebracht und verteidigt worden. Außer ihm bekennt kein 
Schriftsteller sich zu ihr. Seydel, zu dessen extrem föderalistischen Grund- 
anschauungen (vgl. oben 199, 225) sie eigentlich passen würde, hat sie ab- 
gelehnt (Komm. zur RV 33, AnnDR 1900 184; dazu O. Mayer, ArchÖfR 18 
344-346). Laband bezeichnet sie, als „wertlose Gedankenspielerei“ (DJZ 
9 563). Sie steht in unversöhnlichem Widerspruch mit RV Art. 78, mit der 
selbständigen Staatlichkeit und Souveränetät des Reiches. Politisch ist sie 
verwerflich als ein Unternehmen, welches geeignet ist, das Vertrauen in die 
Festigkeit des Reichsverbandes und in die Ver assungstreue der verbündeten 
Regierungen zu erschüttern. Die Wissenschaft hat sich einstimmig gegen 
sie erklärt: vgl. Laband, a. a. OÖ. und StR 1 91 Anm. 1, Kl. A. 24 Anm. 1; 
Seydel, O. Mayer, a. a. O.; Zorn, Reich und Reichsverfassung (1895) 8; 
Jellinek und Anschütz in der „Frankfurter Zeitung“, 20. Mai 1904; Anschütz 
in der „Täglichen Rundschau“ vom 20. und 29, Mai 1904; Strantz, DJZ 9 
534; Triepel, Unitarismus und Föderalismus 31, 32, Ebenso die Reichs- 
regierung: Erklärung des Staatssckretärs Graf Posadowsky im Reichstage, 
24. Jan. 1905. Daß Bismarck sie für richtig gehalten habe — so Hans 
Delbrück, Regierung und Volkswille (1914), 63 — ist eine unbewiesene Be- 
hauptun . Das Dokument, worauf Delbrück sich bezieht, ist ein Bundes- 
ratsbeschluß vom 5. April 1884 (Reichsanzeiger 1884 Nr. 83, auch abgedruckt 
in den AnnDR 1886 350 ff... Daß dieser Beschluß (eine Erklärung der preußi- 
schen Regierung, der sich die übrigen verbündeten Regierungen im Bundes- 
rate angeschlossen haben) nicht sowohl die Meinung des Bundesrates als die 
berzeugungen scines damaligen Vorsitzenden wiederspiegelt, ist zuzugeben, 
nicht aber, daß er das enthält, was Delbrück hineinlegt. Der Beschluß ist 
im wesentlichen eine amtliche Erklärung zugunsten der Lehre von den 
vertragsmäßigen Grundlagen der Reichsverfassung“, wonach gewisso Ver- 
assungsänderungen — solche nämlich, welche „die Bedürfnisgrenze in uni- 
tarischer Richtung überschreiten“ — durch die „fortdauernden Verträge, auf 
denen das Reich beruht“ ausgeschlossen sein sollen. Diese Lehre ist un- 
haltbar (vgl. unten 69). Wie man sich aber auch zu ihr stellen will, jeden- 
falls läßt sich mit ihr immer nur die Aufrechterhaltung des bestehenden 
Verfassungsrechtes, sein Schutz vor (angeblich unzulässigen) Anderungen, 
niemals sein Umsturz rechtfertigen. Seydel, Komm. 185 ff. legt den Beschluß 
vom 8 April 1884 zu partikularistisch aus; richtig dagegen Rehm, StL
	        
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