693 Zweiter Teil. Drittes Buch. $ 164.
möglichen Verfassungsänderungen bewirkt werden, also nicht nur
solche, welche die Organisation, sondern auch solche, welche die
Zuständigkeit des Reiches, und nicht minder solche, welche die
Stellung der Einzelstaaten im Reiche und zum Reiche ändern,
wobei es tiberall keinen Unterschied macht, ob die dadurch herbei-
geführten Rechts- und Machtverschiebungen politisch unbedeutend
oder bedeutend sind. Keine Veränderung des durch die Reichs-
verfassung geschaffenen Rechtszustandes ist so groß, daß sie der
durch Art.78 bezeichneten Zuständigkeit der Reichsgesetzgebung
entrückt wäre. Es kann demnach durch verfassungänderndes
Reichsgesetz, ohne daß den Einzelstaaten als solchen ein Recht
des Widerspruchs (Veto) dagegen zustände,
a) die bestehende Machtverteilung zwischen den obersten
Reichsorganen abgeändert, z. B. durch Verstärkung der kaiser-
lichen Gewalt das Reich in eine Einherrschaft verwandeltg, durch
Schwächung der Stellung des Bundesrates der unitarische Charakter
des Reiches schärfer betont, durch Vergrößerung der Macht des
Reichstags die Reichsverfassung unter Zurückdrängung ihrer föde-
ralistischen und monarchischen Grundgedanken demokratisiert
werden;
b) die Zuständigkeit des Reiches auf Kosten der einzelstaat-
lichen Zuständigkeit erweitert werdenh, indem dem Reiche solche
Tätigkeitsgebiete („Angelegenheiten* im Sinne des Art. 4 RVi),
die seiner Kompetenz bis dahin völlig entzogen waren, zugewiesenk,
oder ihm in solchen Angelegenheiten, die bisher nur seiner Ge-
setzgebung und Beaufsichtigung unterstanden, unmittelbar voll-
—
& Vgl oben 474, 477, 499, 500.
h Diese Betätigungsmöglichkeit der verfassungsändernden Gewalt nennt
man „Kompetenz-Kompetenz“ Die Kompetenz- Kompetenz ist ein
unmittelbarer Ausdruck und Ausfluß der dem Reiche zustehenden Sou-
veränctät: vgl. oben $ 14 S.52 Anm.n, $6. Zur Zeit des Norddeutschen
Bundes war die Frage, ob eine Ausdehnung der Bundeskompetenz auf dem
Wege der \erfassungsänderung zulässig oder ob dazu die Zustimmung aller
Bundesglieder erforderlich sei, bestritten. Nach dem Wortlaut des Abs. 2
Art. 78 der Reichsverfassung kaun es keinem Zweifel unterliegen, daß solche
Kompetenzerweiterungen durch bloße Yerfassungsänderun en zulässig sind.
Dieses Resultat wird auch durch die Vorgänge bei Gründung des Reiches,
gelegentlich welcher eine Erweiterung der Kompetenz im Wege der Bundes-
gesetzgebung erfolgte, und durch die spätere Praxis bestätigt. Ebenso be-
steht unter den Schriftstellern über diesen Punkt jetzt völlige Einstimmig-
keit: vgl. G. Meyer, Staatsrechtl. Erört. 74 ff., 738 N. 1; Haenel, Studien 1
156 ff., StR 1 771ff.; Laband, StR 1 105; Seydel, Komm 413 ff.; Loening,
Grundzüge der RV (2. Aufl.) 28, 103; Anschütz, Enzykl. 66, 71; Zorn, StR 1
TT7E.; Arndt, RStR 186 f.; Dambitsch, RV 679.
i Vgl. oben $ 80 S. 260 ff.; Anschütz, Enzykl. 70, 71.
k Beispiel: Ausdehnung der Gesetzgebungshoheit des Reiches auf das
gesamte bürgerliche Recht“ durch RG vom 20. Dez. 1873 (Anderung des
Ärt.4 Nr. 13 RV) — Das Reich könnte sich durch Handhabung seiner Kom-
petenz-Kompetenz das Recht beilegen, die Verfassung der Einzelstaaten, oder
Ihr Steuerwesen gesetzlich zu regeln, indem durc Reichsgesetz etwa ge-
wisse Normativbestimmungen für die einzelstaatlichen Verfassungen (vgl.