Die Funktionen. $ 164. 697
Dambitsch und v. Jagemann berufen sich für die Richtigkeit der Lehre in
erster Linie auf die „Praxis“, worunter sie gelegentliche Erklärungen des
Bundesrats, der Reichsleitung und der preußischen Staatsregierung verstehen.
Es fragt sich doch aber gerade, ob diese Praxis (vgl. weiter unten) im Recht
ist. Endlich hält Smend es (anscheinend) nicht für erforderlich, die: Lehre
aus irgendwelchen Tatsachen oder Rechtssätzen logisch abzuleiten, da sie
gewohnheitsrechtlich feststehe: „Die föderativen Grundlagen der RV
eben nicht nur den geschriebenen Sätzen der RV eine gewisse politische
Farbe und Wirkungskraft, sondern sie bedeuten ihre Bereicherung um
wichtige ungeschriebene.“ „Die Mehrheit in der staatsrechtlichen
Theorie hat das Stück des Reichsstaatsrechts ebenso vernachlässigt, wie die
kleine föderalistische Minderheit (Seydel) es übertrieben hat: erst mit seiner
Anerkennung erhalten einige magere Abschnitte der RV ihr eigentliches
Leben und tritt neben das System der Über- und Unterordnung im Reich
das ebenfalls grundlegende der bundesmäßigen Gleichordnung aller Einzel-
staaten, auch des hegemonisch verstärkten Preußen“ (a. a. O. 261, 262). Auch
Smend läßt sich offensichtlich von der Vorstellung leiten, daß gewisse grund-
legende Normen und Einrichtungen unseres lteichsrechts dem normalen Ver-
fassungsänderungsverfahren entzogen seien, daß die Änderung dieser „Grund-
lagen“ nur in vertragsmäßiger Weise. also nicht ohne die Zustimmung der
bzw. der beteiligten Einzelstaaten erfolgen könne. Also ein Vetorecht der
oder einzelner Staaten gegen Änderungen der RV noch in anderen Fällen
als da, wo die RV ein solches Recht verleiht (Art. 5 Abs. 2, 78 Abs. 2).
Diese Fälle sollen durch „ungeschriebenes“ Recht, also durch Gewohnheits-
recht, bestimmt sein, welches neben der RV hergehe, Ich möchte beides
leugnen, das Bestimmtsein wie das Gewohnheitsrecht. Wie die anderen
Vertreter dieses „entschiedenen Föderalismus“, so gibt auch Smend keine
klare und erschöpfende Auskunft darüber, was er sich unter den dem ver-
fasaungsmäßigen Walten des Mehrheitswillens entzogenen „Grundlagen“
eigentlich denkt. Soll etwa jede Reichsreform an dem Veto jedes Einzel-
staates scheitern dürfen, weil dessen Regierung in ihr, — frei nach Bismarcks
Erklärung vom 5. April 1884, s.o. Anm.f — eine „Überschreitung der Be-
dürfnisgrenze in unitarischer Richtung“ erblickt Was dann das Dasein
eınes Gewohnheitsrechtssatzes anlanpt, so setzt dies eine dauernde, all-
emeine Überzeugung von der rechtlichen Notwendigkeit gewisser Hand-
ungen oder Unterlassungen voraus. In welchen Tatsachen oder Vorfällen
soll sich eine derartige Überzeugung bekunden? Daß die verbündeten Re-
gierungen, einzeln und zusammen, sich wiederholt zu der Lehre von den
vertragsmäßigen Grundlagen bekannt haben, reicht nicht aus, um darauf die
Behauptung eines Reichsgewohnheitsrechts zu stützen, denn das Reich und
sein Recht ruhen doch nicht allein auf dem Willen der Regierungen, sondern
auf dem einmütigen Willen der Regierungen und des deutschen Volkes.
Als ob es lediglich die Regierungen gewesen wären, die dem Reiche seine
Form gegeben haben! ... Die Verfassung ist nicht nur zwischen den Re-
gierungen, sondern sie ist auch zwischen Regierungen und Reichstag ver-
einbart worden; sie ist in doppeltem Sinne eine .paktierte‘ Verfassung“
(Triepel, a. 2.0.31). Demgemäß kann sich Gewohnheitsrecht, welches diese
Verfassung ergänzt oder abändert, nur bilden auf Grund der gemeinsamen
Überzeugung beider Teile, der verbündeten Regierungen als Bundesrat und
des deutschen Volkes als Reichstag. Die traditionellen Anschauungen des
Bundesrats über die hier besprochene Frage ist nur die Überzeugung der
einen Seite; es wäre — abgesehen von anderen und weiteren — vorerst
zu untersuchen, ob die andere Seite, der Reichstag, jene Anschauungen teilt.
Zu untersuchen wäre übrigens auch, ob die geschilderte Regierungs-
ansicht, wie sie sich insbesondere in dem Bundesratsbeschluß vom 5. April
1884 (oben Anm. f) widerspiegeltt, eine Rechtsüberzeugung, ein opinio
t Vgl. weitere Belege bei O. Mayer, a. a. O. 364, 365; Dambitsch,
a. a. O0. 11, 680.