Full text: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts.

698 Jweiter Teil. Drittes Buch. 3% 161t. 
necessitatis et iuris ist. M. E. ist das nicht der Fall. Die Bedeutung der 
Tatsache, daß die Regierungen sich wiederholt im Sinne der „vertrags- 
mäßigen Grundlagen‘ ausgesprochen haben, liegt nicht auf staatsrechtlichem, 
sondern auf politischem Gebiet". Sie hat die Tragweite einer still- 
schweigenden Übereinkunft unter den verbündeten Regierungen, wonach sie 
bei Verfassungsänderungen, welche die Macht und die unitarische Gestaltung 
des Reiches auf Kosten der Einzelstaaten und ihrer Rechte verstärken, nicht 
nur solche Majorisierungen, welche die RV verbietet (Art. 78 Abs. 1 und 2), 
sondern auch - grundsätzlich und tunlichst — verfassungsmäßig erlaubte Majori- 
sierungen im Bundesrate unterlassen wollen: eine Regel, an welche die Regierun- 
gen sich durch „Bundestreue“: durch ein ethisches Gebot gebunden fühlen, 
ein Gebot, welches sie zu mehr und noch anderem verpflichtet als zur Befolgung 
dessen, was in der Verfassung steht. Als Haupiträger dieser Treupflicht 
erscheint (worauf zuerst Kloeppelv hingewiesen hat) der politisch führende 
Einzelstaat: Preußen. Preußen hat den anderen deutschen Staaten bei der 
Gründung des Reiches und später wiederholt versprochen, seine überragende 
Macht im Reiche nicht rücksichtalos einzusetzen und auszunutzen nur um den 
Unitarismus zu stärken, den Föderalismus zu schwächen; die Anderen ver- 
lassen sich darauf, daß das Versprechen gehalten werde. Das alles ist aber 
Ethik und Politik, kein Staatsrecht. Wird dem Versprechen zuwidergehandelt, 
so liegt darin keine Rechtsverletzung, am wenigsten ein Bruch der Reichs- 
verfassung. Eine interne Übereinkunft der verbündeten Regierungen kann 
dem Grundsatz, wonach Änderungen der RV ohne Ausnahme nur auf dem 
durch Art. 78 Abs. 1 oder 2 vorgeschriebenen Wege erfolgen können, und 
daß jede denkbare Verfassungsänderung auf diesem Wege bewirkt werden 
kann, keinen Abbruch tun — so wenig wie etwa die ausschließliche und 
unbeschränkte Zuständigkeit der Staatsgesetzgebung zur Abänderung des 
Thronfolgerechts (oben $ 86 S. 283 ff.) dadurch geschmälert werden kann, daß 
der Monarch des betreffenden Staates seinen Agnaten zusichert, solche Ände- 
rung niemals ohne ihre Einwilligung zu sanktionieren. — 
Besonders erschwert ist die Änderung solcher Bestimmungen 
der Reichsverfassung, auf welchen gewisse Ausnahme- oder 
Sonderrechte einzelner Staaten: des Reiches beruhen. 
Die hierauf bezügliche Vorschrift der RV, Art.78 Abs. 2, lautet: 
„Diejenigen Vorschriften der Reichsverfassung, durch welche 
bestimmte Rechte einzelner Bundesstaaten in deren Verbältnis 
zur Gesamtheit festgestellt sind, können nur mit Zustimmung 
des berechtigten Bundesstaates abgeändert werden.“ 
Gesetzentwürfe, welche die hier gemeinten Vorschriften der 
RV abändern wollen, sind also — dies ergibt sich aus dem Zu- 
sammenhang des Art. 78 Abs.2 mit dem voraufgehenden Abs. 1 — 
nicht erst dann, wenn sie im Bundesrate 14 Stimmen (s. oben 689), 
sondern schon dann abgelehnt, wenn sie nur die Stimme des „be- 
rechtigten“, d. h. des oder eines Einzelstaates gegen sich haben, 
der aus der abzuändernden Vorschrift Rechte der im Art. 78 Abs. 2 
bezeichneten Art herleiten kann. 
G. Meyer (vgl. schon seine Staatarechtl. Erörterungen, 71ff., dann die 
früheren Auflagen dieses Lehrbuchos: Voraufl. 8.594 ff.) wollte in Art. 78 
Abs. 2, ebenso wie in den von ihm angenommenen „vertragsmäßigen Grund- 
u) Übereinstimmend Triepel, a. a. O. 25, 29; Rehm, a. a. O. 191. 
v Dreißig Jahre deutscher Verfassungsgeschichte, 209. Vgl. sodann 
Triepel, a. a. O. 30; Smend, a. a. O. 261.
	        
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