Full text: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts.

700 Zweiter Teil. Drittes Buch. $ 164. 
Art. 78 Abs. 2 war in der Verfassung des Norddeutschen 
Bundes nicht enthalten. Er findet sich zuerst in dem Schluß- 
protokoll betr. die Vereinbarung zwischen dem Norddeutschen 
Bunde, Baden und Hessen über Gründung des Deutschen Bundes 
vom 15. November 1870 (oben 206) und ist von da in den Vertrag 
mit Bayern vom 23. November 1870 unter Nr. V tbergegangen. 
In letzterem werden die Worte: „diejenigen Vorschriften der 
Verfassung, durch welche bestimmte Rechte einzelner Bundes- 
staaten in deren Verhältnis zur Gesamtheit festgestellt sind“ durch 
den erläuternden Zusatz erklärt: „insbesondere, soviel 
Bayern angeht, die unter Ziffer III dieses Vertrages 
aufgeführten Bestimmungen“. Die Bestimmungen unter 
Ziffer IlI enthalten nicht die Mitgliedschaftsrechte Bayerns, z. B. 
sein Recht auf sechs Stimmen im Bundesrate, auf Vertretung im 
Heeresausschuß, auf Vorsitz im auswärtigen Ausschuß des Bundes- 
rates (diese „Organisationsprivilegien“w sind in Ziffer II der Ver- 
der Berechtigten nicht aufgehoben werden könnten. Iura singularia oder 
Sonderrechte der Einzelstaaten sind aber nach ihm alle diejenigen Rechte 
derselben, welche eine Abweichung von der allgemeinen Regel enthalten, 
einerlei, ob sie auf der Verfassung oder auf speziellen Gesetzen beruhen. 
Ihrem Inhalte nach erscheinen sie teils als Beschränkungen der Kompetenz 
des Reiches, teils als Rechte in bezug auf die Organisation der Reichsgewalt, 
teils als finanzielle Begünstigungen. Der Grundsatz der Unentziehbarkeit 
der iura singularia wird einmal durch Analogien begründet, welche der 
Theorie der privatrechtlichen Korporationen entnommen sind, andrerseits 
durch Rechtsanschauungen, die im alten deutschen Reiche und im früheren 
deutschen Bunde herrschend waren. Aber privatrechtliche Grundsätze können 
für die staatsrechtlichen Verhältnisse des Reiches nicht maßgebend sein und 
die Verfassung des alten deutschen Reiches und des deutschen Bundes waren 
von der des jetzigen Reiches so verschieden, daß aus denselben keine 
Schlüsse auf den heutigen Rechtszustand gezogen werden dürfen. Die 
Reichsverfassuug endlich bietet für eine so weit gehende Ausdehnung des 
Begriffes der Sonderrechte (iura singularia), wie Laband sie vertritt, keinen 
Anhalt, sondern spricht nur von denjeni en Rechten einzelner [„einzelner“, 
nicht „der einzelnen“, woraus zu schließen, daß Rechte gemeint sind, die 
nicht d en, d. h, allen einzelnen, sondern solche, die nur wenigen Staaten 
zustehen] Bundesstaaten, welche auf „Vorschriften der Reichsver- 
fassung“ beruhen. Den Ausführungen Labands stimmen zu: Delbrück, 
Art. 40 der Reichsverfassung S. 1, 2; im wesentlichen Gierke in Schmollers 
Jahrbuch, a. a. O. 1171; Kittel, Die bayrischen Reservatrechte 16; Arndt, 
Reichsstaatsr. 197 ff., Komm. z. RV (4. Aufl.) 403 ff.; v. Jagemann, a.a. O0. 
231 #.; Dambitsch, a. a. O. 684, 685; dagegen nicht unbedingt Mejer, Ein- 
leitung 342 f., obwohl Laband, StR 1 122 Anm. 2 sich auf ihn beruft. — 
Gegen Laband vgl. Haenel, Vertragsmäßige Elemente 183 ff., Deutsches 
Staatsrecht 1 811, 820 ff.; Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte 
304, 305; Loening, Die Sonderrechte der deutschen Staaten und die Reichs- 
verfassung, AnnDR 1$8°5 337 ff. und Grundzüge der RV 44; v. Martitz, 
ZStaatsW 82 569 ff.; Anschütz, Enzykl 75ff.; Zorn, StR. 1127 ff., Komm. zu 
Art. 738 Nr. 5; v. Kirchenheim, Lehrbuch des deutschen Staatsrechtes 284; 
B. Schmidt, a. a. O. 77; Nirrnheim, ArchÖffR 25603 ff, 610 ff., 629; Auerbach, 
Das neue Deutsche Reich u, seine Verfassung (1871) 35 ff.; Erwin Loewen- 
feld, Bereich u. Anwendung des Art. 78 Abs. 2 RV (Breslauer Diss., 1914). 
w Ausdruck Loenings, Grundzüge 44.
	        
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