Full text: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts.

716 Zweiter Teil. Drittes Buch, $ 167. 
ob sie den Bestimmungen des Reichsgesetzes widersprechen oder 
mit denselben übereinstimmen. Die vollständige Ordnung (Kodi- 
fikation) eines Rechtsgebietes durch die Reichsgesetzgebung hebt 
also das gesamte darauf bezügliche Landesrecht auf und schließt 
alle fernere Tätigkeit der, Landesgesetzgebung auf diesem Gebiete 
aus: Landesgesetze, welche in dieses Gebiet eingreifen, sind 
nichtig. Bezieht sich dagegen das Reichsgesetz nur auf einzelne 
Punkte eines Rechtsgebietes, so bleibt auch künftighin eine landes- 
gesetzliche Tätigkeit innerhalb der reichsgesetzlichen Schranken 
möglich ®. 
® Alle Arten gesetzgeberischer Anordnungen des Reiches gehen 
allen landesgesetzlichen Vorschriften vor. Es können daher 
nicht nur einfache Landesgesetze, sondern auch Bestimmungen der 
Landesverfassung durch einfache Reichsgesetze und selbst durch 
Reichsverordnungen aufgehoben werden?. Nicht minder werden 
des „vorgehenden“ Reichsgesetzes die betreffenden Landesgesetze von selbst 
wieder in Kraft treten. Diese Ansicht (der sich auch der Präsident des 
württembergischen Staatsministeriums Dr. v. Weizsäcker angeschlossen hat; 
vgl. Erklärung desselben in der württembergischen Zweiten Kammer, 17. Jan. 
1 13 ist zu einem bestimmten politischen Zwecke aufgestellt worden: um 
im Falle der Aufhebung des Reichs-Jesuitengesetzes vom 4. Juli 1872 be- 
haupten zu können, daß dann die früheren, seiner Zeit durch dieses Gesetz 
beseitigten Landesgesetze gegen den Jesuitenorden wieder aufleben. Daß 
das „Vorgehen“ nicht bloß Suspension, sondern Vernichtung des Landes- 
esetzes durch das Reichsgesetz bedeutet, ergibt sich schon daraus, daß das 
eichsgesetz dem Landesgesetz — nicht nur, aber jedenfalls auch — die 
Stellung eines den gleichen Gegenstand betreffenden späteren Gesetzes, der 
lex posterior, hat. Lex posterior derogat priori: derogare aber heißt nicht 
suspendieren, sondern aufheben, abschaffen. Selbst Seydel, der in 
dem Reichsgesetz nur ein Erzeugnis übereinstimmender, gemeinsamer 
Landes esetzgebung erblickt (a.a.O. 41), muß zugeben — und gibt das auch 
zu, vgl. a.a. 0. 42 —, daß das Reichsgesetz das von ihm vorgefundene 
Landesgesetz restlos beseitigt. Dies muß um so mehr gelten, wenn man in 
dem Reichsgesetz nicht sowohl das spätere als das stärkere Gesetz, eine 
Rechtsquelle höherer Ordnung sicht, welche sich zu dem Landesgesetz ver- 
hält, wie dieses zur Verordnung oder zu der Satzung eines innerstaatlichen 
Verbandes. Es ist bisher noch niemals behauptet worden und wird füglich 
auch nicht behauptet werden können, daß das Gesetz, welches eine vorher 
durch Verordnung, etwa durch Polizeiverordnung, geregelte Materie neu 
ordnet, diese Verordnungen lediglich in ihrer Wirksamkeit und nicht in 
ihrem ganzen Dasein aufhebe. 
5 Vgl. Heinze, Das Verhältnis des Reichsstrafrechtes und Landesstraf- 
rechtes (1871), 21 ff.; Laband, StR 2 115; H. Schulze, LehrbDStR 2 127 ff.; 
Binding, HdbDStrR 1 282; Anschütz, Enzykl. 160. 
6 Laband 2 122; Haenel, StR 1 249; Heinze, a. a. O. 22; Anschütz, 
Enzykl. 160. 
? Seydel, Komm. zu Art. 2 Nr. II; Riedel 41; R. v. Mohl 168; Haenel, 
Vertragsmäßige Elemente 263 N.16, Deutsch. StR 1 249; Laband, StR? 115; 
v. Rönne, StRDR a. a. O. 7; Arndt, Das Verordnupgsrecht des Deutschen 
Reiches 184, Komm. zur RV 61, 62; Jellinek, Gesetz und Verordnung 261; 
Posener, a. a. O. 50ff.; Anschütz in der Enzykl. 160. Anderer Ansicht: 
Heinze, a. a. O. 24. Rosenberg, a. a. O. 368, 369 will den Vorrang der 
Reichsgesetze gegenüber Landesverfassungsgesetzen nicht anerkennen: 
„Die Landesverfassung kann durch Reichsgesetz nicht geändert werden.“
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.