Full text: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts.

740 Zweiter Teil. Drittes Buch. $ 173. 
ehenden Macht des Richters über die Legislative pflegt sehr ein- 
ach zu sein. Man begnügt sich meist mit einer Ausführung etwa 
der Art: Gesetze, bei deren Zustandekommen die Vorschriften 
über den Weg der Gesetzgebung verletzt worden sind oder welche 
unter Außerachtlassung des Verfassungsänderungsverfahrens Normen 
aufstellen, die von der Verfassung abweichen, sind nur Schein- 
gesetze, sie sind nichtig und vom Richter, der nur existierenden, 
nicht aber nichtexistierenden Gesetzen unterworfen ist, als nicht 
vorhanden anzusehen. Dieser Gedanke geht zunächst jedenfalls 
zu weit, indem er in jedem Formfehbler des Gesetzgebungsverfahrens 
einen Nichtigkeitsgrund erblickt, der das ganze Gesetz invalidiert, 
während doch erst noch zu untersuchen wäre, inwieweit hier die 
Unzulässigkeit einer Handlung ihre Ungültigkeit zur Folge hat. 
Sodann würde jene Deduktion, wenn sie richtig wäre, das „ver- 
fassungswidrige“ Gesetz nicht nur im Verhältnis zu den Gerichten, 
sondern ganz allgemein und absolut als nichtig erscheinen lassen: 
nicht nur der Richter, sondern jedes Staatsorgan und überhaupt 
jeder, den das Gesetz angeht, wäre so berechtigt wie berufen, sich 
durch Prüfung des verfassungsmäßigen Zustandekommens von dem 
Dasein des Gesetzes zu überzeugen und dem seiner Meinung nach 
verfassungswidrigen, also nichtigen Gesetze den Gehorsam zu ver- 
weigern. Die Deduktion beweist also zuviel, mithin nichts. Sie 
verkennt endlich, indem sie denen, die das Gesetz anzuwenden 
den deutschen abweichenden Verfassungszuständen seine Rechtfertigung; s. 
darüber unten S. 744, 745 Anm.9. Für das deutsche Recht wird die Kompetenz 
des Richters, Gesetze ayf ihre materielle Verfassungsmäßigkeit zu prüfen, be- 
hauptet von v. Mohl, Über die rechtliche Bedeutung verfassungswidriger 
Gesetze, Staatsrecht, Völkerrecht, Politik 1 66 ff.; G. Planck a. a. O. 359; 
v. Roenne, Preuß. StR (d. Aufl.) 1 407ff.; Brie, ArchOffR 4 61; E. Meier in 
Holtzendorfis Rechtslex. 8 226; F. Trier, Verfassungswidrige Reichsgesetze 
(Marburger Diss., 1907). Dagegen: G. Meyer, in der Voraufl. ‚634; 
Bluntschli, Allgem. StR 134 ff.; Gneist a. a. O. 230; v. Sarwey a. a. O. 101, 
220; Gierke in Schmollers Jahrb. 1189 und DPrivR 1 196; das Reichs- 
gericht, E. in Zivils. 9 235 ff., sowie, selbstverständlich, alle Schriftsteller, 
ie (wie Laband, Seydel, Jellinek, OÖ. Mayer, Anschütz, Lukas u. a.; vg]. 
unten Anm. m) schon div Verfassungsmäßigkeit des Zustandekommens der 
Gesetze der richterlichen Kontrolle entziehen. Ein Recht zur Prüfung der 
materiellen Verfassungsmäßigkeit der Gesetze ist auch in anderen europäischen 
Ländern nicht anerkannt, z B. nicht in England, Frankreich, Belgien; vgl. 
darüber die Voraufl. 8 173 N. 8. 
i Allgemeines Einverständnis herrscht heute (abweichend nur die oben 
N. 5 zitierte Abbandlung von Vollert, S. 644) darüber, daß Fragen, wie die 
„Legitimität“ der tatsächlich bestehenden gesetzgebenden Gewalt, der Be- 
rechtigung oder Befähigung des Monarchen zur Regierung niemals Gegen- 
stand richterlicher Nachprüfung sein können. Vgl. die Voraufl. 634 und 
oben 3 7 S. 25, 26. Die Ausübung der gesetzgebenden Gewalt ist, wie die 
der Staatsgewalt überhaupt, nur von dem tatsächlichen Besitz, nicht von 
dem „legitimen“ Erwerb abhängig. „Man kann in bezug auf die Staats- 
handlungen unmöglich eine Rec tsauffassung zulassen, wonach das Dasein 
des Staates und der Herrschaft selbst zeitweilig mit Nichtigkeitsgründen 
nach Art des bürgerlichen Rechts behaftet sein könnte“: v. Seydel-Piloty, 
Bayer. StR 1 841.
	        
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