144 Zweiter Teil. Drittes Buch. $ 173.
nicht die Verfassung anzuwenden, letztere gilt insoweit als ab-
geändert. Ob es in solchem Falle mit Recht oder Unrecht unter-
lassen worden ist, die besonderen Formen der Verfassungsänderung
(oben 661, 662) zu beobachten. ist eine Frage, welche die gesetz-
gebenden Faktoren unter sich auszumachen haben, der Nachprüfung
des Richters ist sie entzogenP,
Die entgegengesetzte Meinung, welche in der Verfassung einen
dem einfachen Gesetz übergeordneten Machtwillen erblicken und
demgemäß dem Richter die Kompetenz zusprechen will, materiell
verfassungswidrige Gesetze für nichtig zu erklären (oben Anm. h),
würde allenfalls dann begründet erscheinen, wenn zur Abänderung
der Verfassung nicht die ordentlichen Faktoren der Gesetzgebung,
sondern andere und (soweit dies denkbar) höhere Staatsorgane
zuständig wären. Allein dies ist nicht der Fall. Die verfassung-
gebende Gewalt ist von der Legislative nicht organisch getrennt,
sondern mit ihr identisch: es sind dieselben Faktoren — Regie-
rung und Volksvertretung — deren übereinstimmender Wille wie
die einfachen so die verfassungändernden Gesetze erzeugt: „Ver-
änderungen der Verfassung erfolgen im Wege der Gesetz-
gebung“ (RV Art. 78 Abs. 1). „Die Verfassung kann auf dem
ordentlichen Wege der Gesetzgebung abgeändert werden“ (preuß.
Verf.Urk. Art. 107). Freilich ist, wie oben S. 661, 662 gezeigt,
im Reiche und den meisten Einzelstaaten für Verfassungsänderungen
ein besonderes, das Zustandekommen der Anderung erscheinendes
Verfahren vorgeschrieben. Aber die Träger dieses Verfahrens
sind überall die ordentlichen Organe der Gesetzgebung, keine
anderen. Das Institut einer besanderen, von der gesetzgebenden
Gewalt verschiedenen verfassunggebenden Gewalt ist dem deutschen
Staatsrecht fremd 4.
pP Anschütz, Enzykl. 166; v. Seydel-Piloty, Bayer. StR 1 840 Anm. 18;
Amdt, Komm. zur RV 65, 403. Vgl. auch oben 662. Insbesondere hat der
Richter nicht zu prüfen, ob ein (einfaches) Reichagesetz die Zuständigkeit
des Reichs (oben $ 80) innehält, da es sich hierbei um eine Entscheidung
über die materielle Verfassungsmäßigkeit des betreffenden Gesetzes handelt.
Vgl. Voraufl. 636, Schack a. a. ©. 285 Anm. 1 und RGZ vom 11. Jan. 1916
in JW 1516 596.
4 Übereinstimmend die Voraufl., $. 634. Vgl. auch oben 8. 30, 31.
Zur Geschichte der Idee der verfassunggebenden Gewalt: E. Zweig, Die
Lehre vom Pouvoir constituant, ein Beitrag zum Staatsrecht der französ.
Revolution (1909). — Daß in den Vereinigten Staaten von Amerika die Kom-
etenz zur Abänderung der Verfassungen (sowohl der Bundesverfassung wie
er Gliedstaatsverfassungen) besonderen Organen übertragen ist, die mit den
ewöhnlichen Faktoren der Gesetzgebung nicht identisch sind, ist bereits
ın anderem Zusammenhange (oben 8. 30, erwähnt; vgl. Näheres darüber bei
Freund, Öffentl. Recht der Verein. Staaten 6ff., 11ff. Die Verfassung gilt
dort als Ausdruck .eines der Legislative rechtlich überlegenen Machtwillens
im Staate; die richterliche Gewalt ist der gesetzgebenden nicht unter-,
sondern gleichgeordnet, die gesetzgebende der vertassunggebenden Gewalt
nicht gleich-, sondern untergeordnet. Eben deshalb ist es aber auch nur
folgerichtig, wenn das amerikanische Recht den Richter verpflichtet, der
Verfassung mehr zu gehorchen als dem Gesetzgeber, d. h. die Gesetze auf
ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen und, wenn für verfassungswidrig er-