Full text: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts.

Die Funktionen. $ 190. 819 
Ratifikation einzuholen, um Kollisionen zwischen der völkerrecht- 
liehen Verbindlichkeit und staatsrechtlichen Vollziehbarkeit des 
Vertrages zu verhüten ?®, 
Die Zustimmung der gesetzgebenden Organe des Reiches wird 
bei allen denjenigen Verträgen erfordert, welche ihren Inhalt nach 
in den Bereich der Gesetzgebung, d. h. in den Wirkungskreis der 
Reichslegislative gehören %#. Die Zustimmung nur des Bundes- 
rates ist erforderlich und ausreichend, sofern der Vertrag Ver- 
einbarungen erhält über den Erlaß oder die Abänderung von Ver- 
waltungsvorschriften und Einrichtungen, welche zur Ausführung 
von Reichsgesetzen dienen, falls der Erlaß solcher Vorschriften 
nicht durch Reichsgesetz dem Kaiser oder einer Reichsbehörde 
übertragen ist, (R. V. Art. 7 Ziff. 2)15, 
[Friedensverträge fielen bis zum Ges. vom 28. Okt. 1918 
nicht unter Artikel 11 Abs. 31%, Freilich mußte auch bei diesen eine 
163, 164; v. Rönne, Staatsrecht des Deutschen Reiches $ 124; Proebst a.2.0. 
802 #.; H. Schulze a. a. O. 331; Anschütz, Enzykl. 17%, Die von E. Meier 
a. a. Ö. 291 £ dagegen angeführten Fälle sind nicht beweiskräftig. Die 
Zustimmung des Bundesrates ist in denselben allerdings nach stattgehabter 
Vereinbarung, aber vor der Ratifikation, also vor dem Vertragsabschlusse 
erfolgt. 
j Übereinstimmend: Laband 157; H. Schulze a. a. ©. 331. — And. An- 
sicht: v. Rönne, Staatsrecht des Deutschen Reiches a. a. O. 287; Gorius, 
AnnDG 1875 537 ff; Proebst a. a. O. 309 ff.; Seydel, Kommentar 165; An- 
schütz, Enzykl. 174, welche die Vorlage an den Reichstag erst nach erfolgtem 
Abschluß für erforderlich halten, letzterer allerdings mit der Einschränkung, 
daß der Vertrag dann nur unter Vorbehalt der Genehmigung durclı den 
Reichstag abgeschlossen werden dürfe. 
14 ID. h. diejenigen Verträge, deren Gegenstand in das Vorbehalts- 
gebiet der Legislative eingreift, fallen unter Art. 11 Abs. 3, diejenigen, 
welche ohne Bundesrat und Reichstag von der Reichsleitung vollzogen 
werden können, nicht. Dies ist der Sinn des Art. 11 Abs. 3. Die Ab- 
nzung zwischen genehmigungspflichtigen und nicht genehmigungspflich- 
gen Verträgen ist sonach identisch mit der entsprechenden Regel des 
Landes-, insbesondere des preußischen Staatsrechts, welches letztere bei der 
Abfassung des Art. 11 Abs. 3 vorbildlich war (vgl. Laband 2 146). Art. 11 
Abs. 3 ist freilich sehr ungeschickt redigiert. Die Aufnahme der Worte 
„nach Artikel 4“ in seinem Moxt ist verwirrend, sie muß, wenn man zu dem 
elangen will, was gemeint ist, als nicht geschrieben gelten. Andernfalls 
Eommt man zu dem absurden und unannehmbaren Gegenfeilsschluß, daß 
solche Verträge, deren Gegenstand nicht zu den im Art. 4 aufgezählten 
Angelegenheiten gehört, die sich also außerhalb der Reichszuständigkeit 
(oben $ 80) bewegen, weder der Zustimmung des Bundesrats noch der Ge- 
nehmigung des Reichstags bedürfen, sondern vom Kaiser allein abgeschlossen 
und vollzogen werden können, — m. a. W.: dem Kaiser wäre damit das 
Recht zugesprochen, durch Verträge mit fremden Staaten die Reichszuständig- 
keit zu erweitern. Was Art. 11 Abs. 3 in Wahrheit meint, ist nicht _Art. uf 
d. h. die Zuständigkeitsgrenze zwischen Reich und Einzelstnat, sondern die 
Zuständigkeitsgrenze zwischen Legislative und Exekutive. ereinstimmend 
die herrschende Meinung: Laband 2 136 fl.; Seydel a. a. O. 162; Jellinek, 
Ges. u. Verordn. 359; dt, Reichsstaatsr. 711; Anschütz, Enzykl. 174; 
Neuestens sind die Worte „nach Art. 4“ gestrichen: Ges. vom 28. Okt. 1918 
(RGBL 1274). 
15 Laband 2 158, 165. . 
16 Übereinstimmend: v. Roenne, Staatsrecht des Deutschen Reiches 
G. Meyer-Anschütz, Deutsches Staatsrecht. III. 7. Aufl. 53
	        
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