Full text: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts.

886 Zweiter Teil. Drittes Buch. $ 204a. 
Gegenwart durch eine unüberbrückbare, jede geschichtliche Kon- 
tinuität zerstörende, ja fast den Faden der Erinnerung zerschneidede 
Kluft getrennt, als man 1848 in Preußen daranging, mit der kon- 
stitutionellen Verfassung auch ein konstitutionell gestaltetes Finanz- 
recht einzuführen. Nahezu zwei Jahrhunderte hatte der monarchische 
Absolutismus gedauert, der das Ständetum der alten Zeit einst 
vernichtet hatte, und nichts lag den Urhebern der preußischen 
Verfassung ferner als eine Wiederherstellung jener alten, längst 
vergangenen, fast vergessenen Dinge. Nicht diese waren Richt- 
schnur und Vorbild, sondern: einmal die unter dem Absolutismus 
aufgekommene Übung, vor jeder Finanzperiode einen Staatshaus- 
haltplan (Etat) aufzustellen !%, sodann aber vor allem das Budget- 
recht der im Jahre 1848 in Preußen wie vielfach auch anderwärts 
als mustergültig anerkannten belgischen Verfassung: letztere 
schreibt, wie bereits erwähnt!®, vor, daß alle Steuern jährlich be- 
willigt und daß alle Einnahmen und Ausgaben des Staates auf 
das Budget gebracht werden sollen, welches alljährlich von den 
Kammern „votiert“ wird!®, Die das Jahr 1848 beherrschende 
politische Doktrin legte dieses Vorbild des preußischen Budget- 
rechts im Sinne eines unbeschränkten Einnahme- und Ausgabe- 
bewilligungs- und -verweigerungsrechts aus: unter „voter de 
budget“ !" verstand man eine freie, legislative Votierung des 
Staatshaushaltsplanes und unter „voter les impöts“ die Ausübung 
eines Steuerbewilligungsrechts, welches auch das Recht, die Steuern 
zu verweigern, in sich schließen sollte. Anknüpfend an das Vor- 
bild verhieß die preußische Verordnung vom 6. April 1848°8, 
> 6: „Den künftigen Vertretern des Volkes soll jedenfalls die 
ustimmung zur Festsetzung des Staatshaushaltsetats und das 
Steuerbewilligungsrecht zustehen.“ Nicht nur Art. 115, sondern 
auch der Art. 111 der belgischen Verfassung (Anm. 16) sollte also 
in das preußische Staatsrecht übertragen werden. Die Entwicklung 
führte indessen dahin, daß wohl das eine (Zustimmung zur Fest- 
setzung des Etats), von dem andern (Steuerbewilligungsrecht) je- 
doch das Gegenteil geschah. Den Grundsatz der alljährlichen 
Budgetvotierung enthält Art. 99 der preußischen Verfassungs- 
14 Die Kab.-Order vom 17. Jan. 1820 (G. S. 21) bestimmte, „daß der zu 
entwerfende Hauptfinanzetat nach erfolgter Prüfung und Feststellung zur 
öffentlichen Kenntnis kommen und mit dieser Kundmachung von drei zu 
drei Jahren fortgefahren werden solle“. Auf Grund dieser Vorschrift wurde 
erstmals durch Kab,-Ordeı vom 7. Juni 1821 ein Staatshaushaltsplan fest- 
esetzt und in der GS verkündet: GS 1821 S. 48. Vgl. v. Roenne-Zorn, 
reuß. StR 8 92, 99. 
!5 Oben 880. 
18 Wortlaut. Art. 111: „Les impöts au profit de l’Etat sont vot&sannuelle- 
ment. Les lois qui les etablissent n’ont de force que pour un an si elles 
ne sont renouvelees.“ Art. 115: „Chaque annee, les Chambres arrötent la 
Ioj des comptes ct votent le budget. Toutes les recettes ct depenses de 
l’Etat doivent ©tre port&cs au budget et dans les eomptes.“ 
. 178, die vorstehende Anm. 
18 Vgl. Anschütz, Komm, zur preuß, Verf. 1 85.
	        
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