Die Funktionen. $ 208a. 915
dem Budgetrecht der Mittelstaaten*, nur daß hier der (nicht etwa
auf. Anleihe übernommene) Fehlbetrag nicht als eigentliche Steuer
auf die Bevölkerung, sondern auf die Einzelstaaten als Glieder
des Reiches umgelegt wird.
Da weder eine Einigung hinsichtlich der Übertragung be-
stehender Landessteuern auf das Reich erfolgen konnte, noch der
Reichstag auf sein Budgetrecht, d. h. einen beweglichen Faktor
auf der Einnahmeseite des Reichsetats ohne ausreichenden Ersatz
verzichten zu können glaubte, blieb jenes ursprüngliche Programm
nicht nur unausgeführt, sondern die Entwicklung nahm einen
gerade entgegensetzten Verlauf: .einerseits blieben die Matrikular-
beiträge, obwohl dem Reich fortgesetzt neue Steuerquellen er-
schlossen wurden, bestehen, und auf der anderen Seite gaben die
Einzelstaaten nicht nur keine Einnahmequellen an das Reich ab,
sondern suchten sogar Teilnahme an den Reichseinnahmen zu er-
langen. Beide Bestrebungen fanden ihre Verwirklichung gelegent-
lich der Finanzreform des Jahres 1879 in der Bestimmung, daß
derjenige Ertrag der Zölle und der Tabaksteuer, welcher die
Summe von 130 Millionen Mark in einem Jahre übersteigt, den
einzelnen Bundesstaaten zu überweisen ist (sog. Frankenstein-
sche Klausel), Diese Bestimmung ist dann später auf die Reichs-
stempelabgaben von Aktien, usw., auf die Verbrauchsabgabe von’
Branntwein und die Reineinnahme aus dem Brauntweinmonopol
(vgl. Anm, 10a) ausgedehnt worden ®,
. Mit dieser Regelung wurde materiell das Programm des Art. 70
RV verlassen; entgegen der Bestimmung des Art 38 RV flossen
außerdem Einnahmen des Reiches in die Kasse der Einzelstaaten.
Man umging eine Vorfassungeänderung dadurch, daß man die
gesamto oheinnahme aus den sog. Überweisungssteuern
eim Reich in Einnahme stellte und dieses dafür mit den Über-
weisungen ‚belastete, Erst 1904 brachte man die hierin liegende
materielle Änderung des Art. 70 RVerf auch formell zum Aus-
druck, indem man im Art. 70 die Überweisungen erwähnte und
die Worte „solange Reichssteuern nicht eingeführt sind“ strich’.
Die -Matrikularbeiträge sind seitdem eine, wenn auch subsidiäre,
so doch notwendige, dauernde Einnahmequelle des Reiches.
Inzwischen aber hatte sich gezeigt, daß die dauernde Ver-
knüpfung von einzelstaatlicher und Reichsfinanzwirtschaft auch
auf der Einnahmeseite, wie sie dem Überweisungssystem eigen-
tümlich ist, der Reichsfinanzwirtschaft schwere Gefahren brachte,
* Vgl. oben $ 2048 8. 880 ff., unten $ 209 8. 920.
® RG, betr. den Zolltarif des deutschen Zollgebietes und den Ertrag
der Zölle und der Tabaksteuer, vom 15. Juli 1879 8 8.
° RG, betr. die Erhebung von Reichsstempelabgaben, vom 1. Juli 1881
92, RG, betr. die Besteuerung des Branntweins, vom 24, Juni 1887 8 39
bs. 1, 47, oben $ 208 S. 912 Anm. 23. RG über das Branntweinmonopol
vom 26. Juli 1918.$ 259.
7 RG, betr. Änderungen im Finanzwesen des Reichs voın 14. Mai 1904.
G. Meyer-Anschütz, Deutsches Staatsrecht. III. 7. Aufl. 59