Full text: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts.

932 Zweiter Teil. Drittes Buch. $ 212. 
3. Als eine besonders gestaltete Betätigungsform der Reichs- 
aufsicht über die Einzelstaaten erscheint das durch Art. 77 der 
Reichsverfassung dem Bundesrate übertragene Recht, gegen Justiz- 
verweigerungen einzuschreiten.] Art.77 schreibt im Anschluß 
und in wörtlicher Übereinstimmung mit Art. 29 der Wiener 
Schlußakte von 1820! vor, daß der Bundesrat Beschwerden 
über Justizverweigerung annehmen und, wenn er sie für 
begründet erachtet, die gerichtliche Hilfe bei der Landesregierung, 
welche zu der Beschwerde Anlaß gegeben, zu bewirken hat!. Unter 
Justizverweigerung wird im allgemeinen sowohl der Fall ver- 
standen, wo ein Richter .gegenüber Anträgen einer Partei in 
flichtwidriger Weise untätig bleibt, als auch der Fall, wo durch 
Eingriffe von Regierungsorganen die unabhängige Ausübung der 
Justiz gehindert wird?. Voraussetzung der Annahme einer Be- 
schwerde über Justizverweigerung durch den Bundesrat ist, daß 
„auf gesetzlichem Wege“, d. h. innerhalb des in Frage stehenden 
Landes ausreichende Hilfe nicht erlangt werden kann. [Der Be- 
schwerdeführer muß also, bevor er sich auf Grund des Art. 77 
an den Bundesrat wenden kann, alle ihm nach den Landesgesetzen 
gegen die Justizverweigerung zustehenden Rechtsmittel bis zur 
letzten Instanz (einschließlich der die Aufsicht über die Justiz- 
organe führenden Landesregierung) fruchtlos angewendet haben ®.) 
Die Beschwerde ist nach der Verfassung und den Gesetzen des 
betreffenden Bundesstaates zu beurteilen, denen selbstverständlich 
die denselben Gegenstand betreffenden Reichsgesetze ergänzend 
und modifizierend hinzutreten. Jedenfalls hat die Entscheidung 
lediglich nach Rechtsgrundsätzen zu erfolgen #, 
4. Durch zwei Bestimmungen der Reichsverfassung (Art. 76 
Abs. 1 und 2) ist dem Reiche eine Gerichtsbarkeit über 
Streitigkeiten unter den Bundesstaaten und inner- 
halb derselben eingeräumt worden, 
ı Vel oben S. 8 47 8. 124 
3 [Daß man’ — wie die Voraufl. S. 786 meint — bei Erlaß des Art. 77 
vorzugsweise“ den zweiten dieser beiden Fälle, also die Einmischung der 
egierungsgewalt in den geordneten Gang der Justiz im Auge gehabt 
habo, ist eine unbegründete Einschränkung. Richtig: Triepel, Beichsauf- 
sicht 181. 
® "Triepel a. a. OÖ. 182, 275, 276. 
* [Dem Bundesrate liegt es ob, Hilfe „bei der Bundesregierung 
die zu der Beschwerde Anlaß gegeben hat, zu bewirken“. Sein Beschluß 
kann sich demnach, soweit er der Beschwerde stattgibt, nur an die be- 
treffende Regierung, niemals aber, an ihr nachgeordnete Stellen, Gerichte 
oder Verwaltungsorgane, richten. Übereinstimmend Triepel a. a. O. 181, 182.] 
5 [Über diese Gerichtsbarkeit und ihre Rechtsgrundlage, Art. 76 RV, 
ist in neuerer Zeit, größtenteils veranlaßt durch die Frage der Zuständigkeit 
des Bundesrates in dem Lippeschen Thronstreit, eine reiche Literatur er- 
wachsen. Vgl. Laband 1 269 ff.; v. Seydel, Staatsrechtl. und polit. Abhandl, 
NF 158—261 (neun größere und kleinere Abhandlungen, welche sämtlich in 
erster Linie den Lippeschen Streit betreffen, aber von allgemeiner und 
dauernder Bedeutuug sind. Vgl. auch insbes. die dort, 183 ff., 194 fl. ein- 
gehend erörterten Gutachten von Zorn und Kekule v. Stradonitz). Ferner:
	        
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