Full text: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts.

936 Zweiter Teil. Drittes Buch. 8 212. 
Verfassung seitens der Angehörigen eines Staates nicht als Ver- 
fassungsstreitigkeit angesehen werden #, da eine solche nur auf 
Grund einer bestehenden Verfassung möglich und, abgesehen 
hiervon, ein subjektives Recht gegenüber dem Gesetzgeber nicht 
denkbar!* ist. Die Bestimmung, daß die Entscheidung im Wege 
der Gesetzgebung erfolgen solle, hat nur die Bedeutung, dieselbe 
den gesetzgebenden Organen des Reiches, Bundesrat und Reichs- 
tag, zu übertragen. Materiell soll die Entscheidung nicht den 
Charakter eines gesetzgeberischen Aktes, sondern den eines Richter- 
spruches haben!®. Dies ergibt sich schon aus dem Umstande, 
daß die Entscheidung der gesetzgebenden Organe des Reiches 
nur dann eintritt, wenn ein Staatsgerichtshof oder eine andere 
richterliche Instanz in dem betreffenden Staate nicht vorhanden 
ist. Tatsächlich sind Bundesrat und Reichstag allerdings nicht 
gehindert, für ihre Entscheidung auch andere als rechtliche Ge- 
sichtspunkte maßgebend sein zu lassen. Die Erledigung einer 
Verfassungsstreitigkeit ist übrigens auch in der Weise möglich, 
oder auf Grund eines sonstigen staatsrechtlichen Titels, der lediglich 
in dem Rechte des letzteren seine Begründung findet. Vgl. Laband 
1 274; Seydel in der Allgemeinen Zeitung 1898 Nr. 293, DJZ 8 481 ff.; Arndt, 
ebenda 500; Binding ebenda 4 73. 
[Triepel, Labandfestschrift 329 ff., kommt der hier entwickelten Ansicht 
im Ergebnis sehr nahe. Er leugnet zwar grundsätzlich die Anweudbarkeit 
des Art. 76 Abs. 2 auf Thronstreitigkeiten, gibt aber 1. zu, daß solche 
Streitigkeiten doch „unter besonderen Umständen“ zu Verfassungsstreitig- 
keiten im Sinne des Art. 76 werden können (329), und meint 2., daß Art. 76 
Abs. 2 auf Thronstreitigkeiten analog angewendet werden könne (880, 
381); endlich sei 3. der Bundesrat, nicht nach Art. 76, wohl aber kraft seiner 
Stellung als Organ der Reichsaufsicht (s. u. 8 212a) befugt, auch ungerufen 
in partikulare Thronfolgestreitigkeiten einzugreifen, wenn dies zur Wahrun 
des Reichsfriedens oder anderer Lebensinteressen des Reiches erforderli 
sei (a. a. O. 331 N. 1, ferner Triepel, Reichsaufsicht 365). Unter dem 
letzteren Gesichtspunkt erklärt sich insbesondere die Intervention des 
Bundesrates in der braunschweigischen Regentschafts- und Thronfolgefrage 
(Beschlüsse vom 2. Juli 1885 und 28. Febr. 1907, vgl. oben N. 20): so Smend, 
DJZ 18 1347 ff. (vgl. dazu Waldecker im Verw.-Arch 25 79) und Triepel, 
Reichsaufsicht 865, 366, 458 Anm. 2; vgl. auch Laband 1 276 Anm. 1.] 
18 \Wie Haenel a. a. O. 568 annimmt. 
16 Jellinek, System der subj. öff. Rechte 80, 81; Anschütz, Enzykl. 88, 
90, Komm, z. preuß. Verf. 1 94, d6. 
18 Vgl. oben $ 155 Anm. y. Übereinstimmend v. Gerber 200 N. 4; 
H. Schulze, Lehrbuch des deutschen Staatsrechtes a. a. O. 62; Haenel a. a. 
O. 571; Anschütz, Enzykl. 155; Perels a. a. O. 56ff.; Fleischer, Die Zu- 
ständigkeit des Bundesrats zur Erledigung v. öff.-rechtl. Streitigkeiten (1904) 
43 ff,, und im wesentlichen Laband, Staatsr. 1 272, der es wenigstens für 
ein idcelles Postulat eines solchen Gesetzes erklärt, daß es das bestehende 
Recht deklariere. — Dagegen vertreten die Ansicht, daß das Wort „Gesetz- 
gebung“ im Art. 76 im materiellen Sinne gebraucht, die Faktoren der Reichs- 
Besetzgebun daher an rechtliche Erwägungen nicht ‚gebunden seien: v. Mar- 
titz, Betrachtungen über die Verfassung des Norddeutschen Burdes 8, 31, 
Staats.-Wiss. 86 221; Seydel, Kommentar zu Art. 76 Nr. II, im Jahrbuch 
2.2.0. 291; Zorn a.a.0. 172, in der 5. Aufl. von v. Roennes preuß,. Staatsr. 
1 129; Triepel, Reichsaufsicht 130, 181. Ahnlich auch Jellinek, Gesetz und 
Verordnung 246,
	        
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