Full text: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts.

940 Zweiter Teil. Drittes Buch. $ 212a. 
liegen also z. B. die Fremdenpolizei (Art. 4 Nr. 1), das Eisen- 
bahnwesen (das. Nr. 8), die Schiffahrt auf den mehreren Staaten 
gemeinsamen Wasserstraßen (das. Nr. 9), die Medizinalpolizei 
(Nr. 15) auch jetzt schon der Reichsaufsicht, obwohl diese Materien 
durch Reichsgesetz noch nicht, oder doch nur in einzelnen Be- 
ziehungen geordnet sind. Zweck und Maßstab der Aufsicht sind 
in dem einen wie in dem andern Falle durch den Gedanken ge- 
geben, daß die Einzelstaaten nicht die dem Schutze des Reiches 
anvertrauten Interessen gefährden (z. B. durch Ausweisung von 
Ausländern das Reich der Gefahr internationaler Konflikte aus- 
setzen, durch Handhabung ihrer Eisenbahntarifhoheit die Handels- 
politik des Reiches durchkreuzen, durch Vernachlässigung der 
Seuchenpolizei die Interessen der öffentlichen Gesundheit schädigen) 
dürfenm, Der Schutz der Reichsinteressen bildet, sofern es an 
einer reichsgesetzlichen Regelung der betreffenden Angelegenheit 
noch fehlt, den einzigen Beaufsichtigungsmaßstabn. Ist dagegen 
  
  
lich geregelten Angelegenheiten „abhängige Aufsicht“ nennt (370, 371.) — 
Die im Text vertretene Ansicht ist die ın der Wissenschaft herrschende: 
vgl. Haenel 305; Laband 1 109 und DJZ 11 618 ff.; Seydel 59; Zorn, Staater. 
1 427 Anm.; Anschütz, Enzykl. 72; Triepel 4l1ff.; Kiefer a. a. O. 37 ff.; 
Bornhak in der Berliner Festgabe für Dernburg (1900) 116 ff.; Arndt, Komm. 
z. RVerf 78 und viele andere (Zitate bei Triepel 4386 Anm. 2). Anderer 
Meinung sind hauptsächlich Dambitsch, RVerf 104 ff. und Heinrichs, Deutsche 
Niederlassungsverträge (1908) 7 ff. Beide berufen sich, indem sie das „selb- 
ständige Aufsichtsrecht“ (s. oben) grundsätzlich leugnen, auf die „Praxis“, 
d. h. auf die Haltung der Reichsregierung. Diese Haltung ist aber keines- 
wegs einheitlich. Hinsichtlich mancher Materien ist allerdings die Befugnis 
des Reichs zur Beaufsichtigung vor reichsgesetzlicher Regelung vom Bundes- 
ratstische aus mit Entschiedenheit verneint worden (so namentlich in Sachen 
der Fremdenpolizei: vgl. Kaiserl. Botschaft v. 30. Nov. 1885 und Bismarcks 
Rede im Reichs v. 1. Dez. 1885 [Sten.-Ber. 130 fl.]; Reichskanzler Fürst 
Hohenlohe im RTag, 16. Febr. 1899; Staatssekr. d. Innern Graf Posadowsky 
das. 6. Febr. 1914; vgl. Triepel 416 ff.), während in anderen Fällen, z.B. in 
Angelegenheiten des Eisenbahn-, Auswanderungs-, Gesundheitswesens, ferner 
bezüglich der Wasserstraßen und der Seeschiffahrtszeichen „selbständige“ 
Aufsicht von der Reichsleitung und dem Bundesrate nicht nur faktisch 
ausgeübt wird, sondern auch das Recht bierauf mehrfach ausdrücklich in 
Anspruch genommen worden ist (vgl. die eingehende Beweisführung bei 
Triepel 424 ff). Daß man das Dasein des Beaufsichtigungsrechts nicht von 
der reichsgesetzlichen Regelung der einzelnen „Angelegenheiten“ abhängig 
machen wollte, ergibt sich schon aus dem Wortlaut das Art. 4, welcher die 
„Beaufsichtigung“ vor der „Gesetzgebung“ nennt, womit gesagt werden 
wollte, daß die „nachstehenden Angelegenhelten“ jedenfalls zuvörderst der 
Aufsichts- und daneben auch der esetzgebungegewalt des Reiches unter- 
worfen seien, daß m. a. W. nicht etwa die erste Gewalt ruhe, soweit und 
solange die zweite noch nicht ausgeübt worden ist. So ist die Rechtslage 
auch im verfassungberatenden Reichstage unwidersprochen aufgefaßt worden: 
vol. die (bei Laband, DJZ 11 615 und Triepel 431 wiedergegebenen) Aus- 
üuhrungen des Abe. Schwarze im RT, 21. März 1867, Sten.-Ber. 315. 
m Laband 1 109; Triepel 365, 367, 369, 441 ff., 444 ff. 
n Haenel, Staatsr. 305 meint, daß bei Nichtvorhandensein von Reichs- 
gesetzen die Reichsaufsicht darüber zu wachen habe, daß die Landes- 
gesetze beobachtet werden. Ebenso Anschütz, Enzykl. 73. (An der dort 
ausgesprochenen Ansicht halte ich nicht mehr fest, sie ist von 'Triepel 438 fl. 
überzeugend widerlegt).
	        
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