Full text: der Weltkrieg 1914. Band 2. (1)

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J. Ramsay Macdonald, das britische Weißbuch über den Ausbruch des 
Krieges mit einigen beachtenswerten Bemerkungen. Er schreibl u. a.: 
Das Weißbuch beginnt mit einer Unterredung zwischen Sir Edward 
Grey und dem deutschen Botschafter am 20. Juli über die Note Oesterreichs 
betreffend die Züchtigung Serbiens. Das britische Ultimatum an Deutsch- 
land vom 4. August bildet den Abschluß. Aus der erwähnten Unterredung 
geht mit ziemlicher Sicherheit hervor: 1. Sir Edward Grey hat bis zuletzt 
versucht, einen europäischen Krieg zu vermeiden. 2. Deutschland hat so gut 
wie gar nichts getan, um den Frieden zu erhalten. Es ist jedoch nicht erwie- 
sen, daß es Oesterreich ausgemuntert habe, gegen Serbien mit bewaffneter 
Handaufzutreten. 3.Dierussische Mobilmachung hat Deutschland zum Krieg 
gezwungen. 4. Rußland und Frankreich haben von Anfang an versucht, 
durch Druck sowohl wie durch List (England) ein Versprechen der Hilfe- 
leistung für den Kriegsfall abzuringen. 5. Wenngleich Sir Edward Grey 
ihnen keine feste Zusage gegeben hat, hat er doch dem deutschen Botschafter 
in London zu verstehen gegeben, daß wir wahrscheinlich nicht außerhalb des 
Konflikts bleiben könnten. 6. Während der Unterhandlungen hat Deutsch- 
land einen Versuch gemacht, unsern Wünschen bis zu einem gewissen Maße 
entgegenzukommen zu dem Ende, sich unserer Neutralität zu vergewissern. 
Von diesen Vorschlägen waren einige recht hinderlich; wir haben jedoch 
unserseits nichts versucht, um sie auf diplomatischem Wege weniger hinder- 
lich zu gestalten. Sir Edward Grey hat sie schließlich allesamt abgewiesen. 
Deutschland drängte so sehr auf eine örtliche Begrenzung des Krieges, daß 
der deutsche Botschafter selbst Sir Edward Grey ersuchte, seine eigenen Neu- 
tralitätsbedingungen bekanntzugeben. Letzterer jedoch lehnte jede Erörte- 
rung darüber ab. Diese Tatsachen sind weder durch Herrn Asquith noch 
durch Sir Edward Grey zur Sprache gebracht worden. 7. Als Sir Edward 
Grey einsah, daß der Friede zwischen Deutschland und Rußland nicht mehr 
zu halten war, hat er es darauf angelegt, uns mit in den Krieg hineinzu- 
ziehen, indem er Belgien als Vorwand benutzte. Damit ist die Richtung des 
Weißbuches gegeben. 
Nun aber scheint ein Widerspruch in der Tatsache zu liegen, daß Sir 
Edward Grey zuerst versucht hat, den europäischen Frieden zu erhalten, und 
daß er später, als ihm dies nicht geglückt war, danach gestrebt hat, Groß- 
britannien in den Krieg zu verwickeln. Der Widerspruch ist nur scheinbar. 
Die Erklärung dafür liegt in unserer Auffassung, daß schon seit acht Jahren 
Sir Edward Greyg für den europäischen Frieden als gefährlich und seine 
Politik als ein Unglück für unser Land gelten mußte. Von zwei Arten der 
Politik kann Großbritannien in Europa nur eine befolgen. Es kann sich im 
allgemeinen auf einen freundlichen Standpunkt gegenüber den andern euro- 
päischen Mächten stellen, im Notfall mit jeder von ihnen insbesondere unter- 
handeln und in Angelegenheiten von allgemeinem Interesse mit allen Na- 
tionen zusammenarbeiten. Die Grundlagen für eine solche Politik sind 
großes Vertrauen, großer Mut, große Geduld. Es gibt aber eine weit ver- 
lockendere Politik, die bequemer und sicherer erscheint, in Wirklichkeit jedoch 
viel gefährlicher und auch schwerer durchführbar ist. Es ist die Politik des 
Eleichgewichts der Mächte durch Bündnisse. Dazu nehmen meist schwache 
und kurzsichtige Minister ihre Zuflucht; denn es ist eine Politik des In- 
stinkts, nicht aber des nüchternen Verstandes. 
Sie ist es gewesen, die auf dem Festlande Mächtegruppierungen her- 
vorgerufen hat. Durch sie ist Europa in zwei große feindliche Lager geteilt 
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