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auch nur im entferntesten Genüge geschieht. Das RG. ist der Ansicht, daß nur
bei der von ihm gegebenen Auslegung verhütet werden kann, daß die in der
Verordnung bezeichneten Gegenstände den Verbrauchern in einer Weise ver—
teuert würden, die es nur wenigen unter ihnen möglich mache, diese Gegenstände
zu erwerben. Gewiß wird man bei der Auslegung des Gesetzes dieser vom RG.
betonten Gefahr die nötige Beachtung zu schenken haben. Das nötigt aber
nicht zu einer Festlegung auf die Gesetzesinterpretation, die der höchste Gerichts-
hof für die allein richtige hält. Es läßt sich eben nicht verkennen, daß bei der
vom RG. dem Gesetz gegebenen Auslegung seinem Wortlaut einige Gewalt
angetan wird. Die Marktlage berücksichtigen heißt: den Handelswert der
Leistung berücksichtigen. Der Kernpunkt des allgemeinen Wucherrechts soll,
so will es das Gesetz, auch für das Kriegswucherstrafrecht nicht ausgeschaltet
werden. Mindestens als Korrektiv der Gewinnbemessung soll er Bedeutung
behalten. Das RG. möchte ihm nicht einmal diese Bedeutung lassen. Dabei
wird die Zurückdrängung der mißliebigen Marktlage der Praxis der Unter-
gerichte noch besonders dadurch erleichtert, daß das RG. es weitgehendst der
freien Beweiswürdigung der Instanzgerichte, und zwar — was praktisch von
der allergrößten Bedeutung ist — ohne Erfordern der Anführung konkreter
Tatsachen überläßt, ob sie die Marktlage nicht als eine auf wucherischen Preis-
treibereien beruhende und schon deshalb völlig unbeachtliche Notmarktlage an-
sehen wollen.5") Daß das RG. damit eine völlige und zudem verhängnisvolle
Umwertung grundlegender privatwirtschaftlicher Anschauungen vornimmt, hat
es sich bereits von hervorragenden, keineswegs lediglich nach ihren Sonder-
interessen orientierten Vertretern des Handelsstandes sagen lassen müssen.“s)
Es ist aber auch hinzuzufügen, daß das RG. mit seiner viel zu weitgehenden
Ausschaltung der Marktlage keineswegs restlos den auf eine Niedrighaltung
der Preise gerichteten Bestrebungen der Preis Steig VO. zu dienen vermag;
steht es doch, woraus es auch gar keinen Hehl macht, auf Grund seiner Theorie
völlig machtlos ungesunden die Marktlage ignorierenden Preistreibereien der-
jenigen Händler gegenüber, die ihre sich üb er der Marktlage haltenden Preise
mit ihren höheren Selbstkosten „rechtfertigen“.54)
db) Nur ganz vereinzelt findet sich in der Rechtsprechung des RG. ein be-
deutungsvolles Heranziehen der Marktlage als eines Hauptfaktors einer beacht-
lichen Gewinnkalkulation.
a) Einer Berücksichtigung der Marktlage hat das RG. zunächst selbst da
das Wort geredet, wo die Gestehungskosten nicht den Einkaufspreis
52) S. in dieser Beziehung besonders das Urteil des IV. Senats vom 10. März
1916, Entsch. Bd. 49 S. 435, das die beiden im Text besprochenen Gesichtspunkte
kumuliert. Insbesondere ist auch der Spielraum, den dieses Urteil der freien Be-
weiswürdigung der Instanzgerichte in der Frage der Notmarktlage läßt, ein außer-
ordentlich weitgehender. Neuerdings ist der IV. Senat noch viel weiter gegangen,
indem er jede auf der Warenknappheit beruhende Marktlage als eine Notmarktlage
ansieht. S. dazu das oben S. 67 sub c Gesagte.
53) S. die Ausführungen oben in Anm. 46.
54) S. die oben Anm. 50 zitierten Entscheidungen und die dazu im Text aus
der diesseitigen Auffassung enwickelten abweichenden Folgerungen.