100 2. Buch. 2. Abschnitt. Verfassungsrecht des Deutschen Reiches.
und auf die eigenartige staatsrechtliche Natur des Reichs Anstoß genommen.
Die herrschende Meinung, sowohl in Theorie (Laband 88 28, 68, II,
Hänel, Studien II, 62 ff., Seydel, Kommentar S. 140 und in Hirths
Annalen 1874 S. 1154, Anschütz, gegenw. Theorien über den Begriff
der gesetzgebenden Gewalt und den Umfang des Kgl. Verordnungs-
rechts in Preußen (2. Aufl.) 1901 S. 82 ff., G. Meyer § 165, E.
Mayer in Krit. Viert. Jahrsschr. 27 S. 139, Rosin, Pol.-Verordn.=
Recht S. 262 ff., Seligmann, Begriff des Gesetzes (1886) S. 115,
insbesondere Reincke S. 130 f.) als auch in der Rechtsprechun
(ROSG. 21 S. 60, RG. 24 S. 1. Bd. 40 S. 68, Bd. 48 S. 84
nimmt an, daß an sich für Verwaltungsvorschriften, welche der Bundes-
rat zur Ausführung von Reichsgesetzen mit der Kraft einer Rechts-
verordnung erläßt, eine vorgängige Ermächtigung gemäß Art. 5 er-
forderlich sei. Es bedarf demnach der jedesmaligen Prüfung und.
Feststellung, ob die Verwaltungsvorschrift nach ihrem Inhalt und der
Absicht des Bundesrats zwingenden Rechts ist und auf einer Delegation
mittels Reichsgesetzes beruht (Art. 5 NV.). Beides braucht nicht
ausdrücklich zu erhellen, sondern kann aus dem Sinne und Zweck der
Vorschriften gefolgert werden, besonders dann, wenn z. B. mit der
Verordnung Rechte oder Verpflichtungen oder Strafen für gewisse
Personen festgesetzt werden.
Kenntnis von Mängeln erlangt der Bundesrat durch den Kaeiser,
welchem die Überwachung der Ausführung der Reichsgesetze zusteht
(RV. Art. 17), und der seinerseits wieder die Beaufsichtigung durch
Reichsbeamte (ugl. z. B. RV. Art. 36 Abs. 2) ausübt.
Der Bundesrat hat das Recht, um Abstellung der Mängel die-
Reichsbehörden und Reichsbeamten direkt zu ersuchen, während er
gegenüber den Organen der Bundesmitglieder zunächst auf diplomatischem
Wege durch Mahnung nötigenfalls durch Zwang im Wege der Bundes-
exekution auf Beseitigung der Mängel hinzuwirken hat.
b) Er hat im Gebiete der Finanzverwaltung Beschluß zu fassen
über die Feststellung des von der Kasse jedes Bundesstaates der Reichs-
kasse schuldigen Betrages an Zöllen und Verbrauchsabgaben (N.
Art. 39 Abs. 2), über den Reichshaushaltsetat (RV. Art. 69), ihm ist
Rechnung zu legen über die Verwendung aller Einnahmen des Reichs (RV.
Art 72), er wirkt mit bei der Aufnahme von Anleihen (RV. Art. 73).
c) Er hat eine Mitwirkung bei der Ernennung gewisser Reichs-
beamten, sei es durch Begutachtung, Vorschlag oder Wahl.
4. Organ der Rechtspflege.
a) Er erledigt auf Anrufen nicht privatrechtliche Streitigkeiten zwischen.
verschiedenen Bundesstaaten (RV. Art. 76 Abs. 1). Die Erledigung.
kann seitens des Bundesrats entweder in der Weise erfolgen, daß er die-
die Beendigung des Streits herbeiführende Gesetzesvorlage (RV. Art. 5
Abs. 1) macht oder die Einsetzung einer Austrägalinstanz beschließt. 1)
1) So wurde 1890 die Entscheidung des Streites zwischen Mecklenburg und-
Lübeck über die Hoheitsrechte am Dassower See, der Pretnitzer Wyk und der
Travemünde dem Reichsgericht übertragen. Ferner ist neuerdings das Reichs-
gericht um Entscheidung in dem Lippeschen Thronfolgestreit ersucht worden.