104 2. Buch. 2. Abschnitt. Verfassungsrecht des Deutschen Reiches.
durch verdeckte, in eine Wahlurne niederzulegende Stimmzettel ohne
Unterschrift ausgeübt. Die Stimmzettel müssen von weißem Papier
und dürfen mit keinem äußeren Kennzeichen versehen sein. Dieselben
sind außerhalb des Wahllokals mit dem Namen des Kandidaten,
welchem der Wähler seine Stimme geben will, handschriftlich oder im
Wege der Vervielfältigung zu versehen. Die Wahl ist direkt. Sie
erfolgt durch absolute Stimmenmehrheit aller in einem Wahlkreise ab-
gegebenen Stimmen. Stellt bei einer Wahl eine absolute Stimmen-
mehrheit sich nicht heraus, so ist nur unter den zwei Kandidaten zu
wählen, welche die meisten Stimmen erhalten haben. Bei Stimmen-=
gleichheit entscheidet das Los. Über die Gültigkeit oder Ungültigkeit
der Wahlzettel entscheidet mit Vorbehalt der Prüfung des Reichstages
allein der Vorstand des Wahlbezirks nach Stimmenmehrheit seiner
Mitglieder. Die ungültigen Stimmzettel sind zum Zwecke der Prüfung
durch den Reichstag dem Wahlprotokolle beizufügen. Die gültig be-
fundenen bewahrt der Vorsteher der Wahlhandlung in dem Wahl-
bezirke so lange versiegelt, bis der Reichstag die Wahl für gültig
erklärt hat. Die allgemeinen Wahlen sind im ganzen Reiche an dem-
selben Tage vorzunehmen, den der Kaiser bestimmt. Die näheren
Bestimmungen über das Wahlverfahren sind vom Bundesrat erlassen
(BE#B. von 1870 S. 275, von 1871 S. 35, REB. von 1872 S. 38).
Die Kosten für die Druckformulare zu den Wahlprotokollen und für
die Ermittelung des Wahlergebnisses in den Wahlkreisen werden von
den Bundesstaaten, alle übrigen Kosten des Wahlverfahrens werden
von den Gemeinden getragen. Die Wahlberechtigten haben das Recht,
zum Betrieb der den Reichstag betreffenden Wahlangelegenheiten Ver-
eine zu bilden und in geschlossenen Räumen unbewaffnet öffentliche
Versammlungen zu veranstalten. Die landesgesetzlichen Bestimmungen
über die Anzeige der Versammlungen und Vereine, sowie über die
Überwachung derselben werden dadurch nicht berührt. — Der Gewählte
hat sich innerhalb 8 Tagen über die Annahme der Wahl zu er-
klären. Beamte bedürfen keines Urlaubs zum Eintritt in den Reichstag.
Gleichwohl sind sie verpflichtet, mit Rücksicht auf die Notwendigkeit
einer Vertretung und der ordnungsmäßigen Erledigung der Dienst-
geschäfte eine Anzeige zu erstatten. Wenn ein Mitglied des Reichs-
tages ein besoldetes Reichsamt, oder in einem Bundesstaate ein be-
soldetes Staatsamt annimmt, oder im Reichs= oder Staatsdienste in
ein Amt eintritt, mit welchem ein höherer Rang oder ein höheres
Gehalt verbunden ist, so verliert er Sitz und Stimme im Reichstage
und kann seine Stelle in demselben nur durch eine neue Wahl wieder
erlangen. Mitglieder des Bundesrats können jedoch niemals gleich-
zeitig Mitglieder des Reichstages sein. Den Reichstag zu berufen,
zu eröffnen, zu vertagen und zu schließen steht dem Kaiser zu. Die
Berufung erfolgt alljährlich (RV. Art. 12, 13). Die Vertagung darf
ohne Zustimmung des Reichstages die Frist von 30 Tagen nicht über-
steigen und während derselben Session nicht wiederholt werden (N.
Art. 26). Nach Ablauf der Vertagungsfrist oder an dem bestimmten
Endtermine tritt der Reichstag ohne Berufung wieder zusammen und