106 2. Buch. 2. Abschnitt. Verfassungsrecht des Deutschen Reiches.
fassung ist die Anwesenheit von 199 Mitgliedern, der Mehrheit der
gesetzlichen Zahl (397) der Mitglieder, erforderlich. Die Mitglieder
des Reichstages sind Vertreter des gesamten Volkes und an Aufträge
und Instruktionen nicht gebunden. Kein Mitglied des Reichstages
darf zu irgendeiner Zeit wegen seiner Abstimmung oder wegen der
in Ausübung seines Berufes getanen Äußerungen gerichtlich oder
disziplinarisch verfolgt oder sonst außerhalb der Versammlung zur
Verantwortung gezogen werden. (Vgl. RV. Art. 30, St G. 511,
GO. 8 60.) Dieses Privileg bezieht sich auch auf die Tätigkeit der
Mitglieder in den Kommissionen, nicht aber für die als Parteipolitiker
in Wahlversammlungen. Daß das Sitzenbleiben beim Kaiserhoch unter
den Begriff der Außerung falle, hat der Reichstag durch Beschluß
vom 15. Dezember 1894 bejaht.
Streitig ist, welche strafrechtliche Bedeutung dem Privileg des
Art. 30 RV. zukommt. Ee frägt sich, ob darin ein Strafausschließungs-
grund oder ein Schuldausschließungsgrund liegen soll. Im ersteren
Falle würde auf die Beleidigung eines Abgeordneten eine Erwiderung
auf der Stelle (StGB. 88 199, 233) zulässig sein, während im
anderen Falle eine Kompensation unzulässig ist. Letzteres hat das
Reichsgericht als wutreffend angenommen (RG. in Strafsachen Bd. 4
S. 15, Rechtspr. III, 107). Jedoch kann der die Beleidigung Er-
widernde sich eventuell auf den Schutz berechtigter Interessen im
Sinne des § 193 StGB. berufen. RG. Rechtspr. Bd. 4, S. 183.
Ohne Genehmigung des Reichstages kann kein Mitglied desselben
während der Sitzungsperiode wegen einer mit Strafe bedrohten
Handlung zur Untersuchung gezogen oder verhaftet werden, außer
wenn es bei Ausübung der Tat, oder im Laufe des nächstfolgenden
Tages ergriffen wird. Genehmigung ist bei einer Verhaftung behufs
Ableistung des Offenbarungseides erforderlich. Auf Verlangen des
Reichstages wird jedes Strafverfahren gegen ein Mitglied desselben
und jede Untersuchungs= oder Zivilhaft für die Dauer der Sitzungs-
periode aufgehoben. (RV. Art. 31 Abs. 3, ZP. § 905 Abs. 1.)
Eine Unterbrechung der Strafhaft zu verlangen, steht hiernach dem
Reichstage nicht zu. Ergänzend hierzu bestimmt StG B. § 69, in
der Fassung der Lex Ahlwardt (Ges. betr. die Abänderung des § 69 des
St GB. vom 26. März 1893 RGBl. S. 133): „Die Verjährung ruht
während der Zeit, in welcher auf Grund gesetzlicher Vorschrift die
Strafverfolgung nicht begonnen oder nicht fortgesetzt werden kann.
Ist der Beginn oder die Fortsetzung eines Strafverfahrens von einer
Vorfrage abhängig, deren Entscheidung in einem anderen Verfahren
erfolgen muß, so ruht die Verjährung bis zu dessen Beendigung.
Ist zur Strafverfolgung ein Antrag oder eine Ermächtigung nach
dem Strafgesetz erforderlich, so wird der Lauf der Verjährung durch
den Mangel des Antrages oder der Ermächtigung nicht gehindert.“
Als Zeugen oder Sachverständige dürfen Mitglieder des Reichstages
während der Sitzungsperiode außerhalb des Sitzes des Reichstages
nur mit Genehmigung des letzteren vernommen werden. (StPP.
§§ 49, 72 ZPO. 88 347, 367.) Auch dürfen sie die Berufung zum