Full text: Die Verfassung und Verwaltung im Deutschen Reiche und Preußen. Erster Band. Deutsches Reich. (1)

112 2. Buch. 2. Abschnitt. Verfassungsrecht des Deutschen Reiches. 
Zu b) oberster Reichsbeamter,#) dessen Gegenzeichnung die 
Anordnungen und Verfügungen des Kaisers (ausgenommen Armee- 
befehle) (RV. Art. 15) zu ihrer Gültigkeit bedürfen. Durch diese 
Gegenzeichnung übernimmt der Kanzler die Verantwortlichkeit. Er ist 
damit Reichsminister und leitet als solcher alle Zweige (Ressorts) 
der Reichsstaatsverwaltung und ist für die gesamte Geschäftsführung 
verantwortlich. Diese Verantwortlichkeit des Kanzlers besteht gegen- 
über dem Kaiser, Bundesrat und Reichstag. Jedoch läßt sich die 
Rechnungslegung nicht erzwingen, da es an reichsgesetzlichen Be- 
stimmungen wegen einer etwaigen Ministeranklage fehlt. 
Durch den Mangel an Rechtsmitteln behufs Erzwingung der 
Rechnungslegung sinkt die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers nur 
zu einer politischen und moralischen herab; „es findet, wie v. Sybel?) 
(VI 90) es ausdrückt, nur eine Beurteilung derselben durch die öffent- 
liche Meinung und die Geschichte statt.“ 
Verweigert der Kanzler die Kontrasignatur, so muß entweder der 
Kaiser nachgeben oder der Kanzler von seinem Posten zurücktreten. Ob 
in letzterem Falle die Entlassungsurkunde noch durch den abgehenden 
Reichskanzler oder von dem neu ernannten gegenzuzeichnen ist, ist 
streitig. Die herrschende Meinung hält zwar eine Gegenzeichnung für 
erforderlich, hält es aber für unwesentlich, welcher von den beiden 
Kanzlern die Gegenzeichnung vornimmt. 
Gewisse Staatsakte des Kaisers bedürfen der Gegenzeichnung 
des Reichskanzlers nicht: 
a) die vom Kaiser als Bundesfeldherrn erlassenen Armeebefehle 
(RV. Art. 63); hierunter fallen jedoch nicht Anordnungen betreffend 
die Heeres= und Marineverwaltung; 
b) persönliche Meinungsäußerungen des Kaisers z. B. 
Erlaß Friedrichs III. vom 12. März 1888; 
c) kaiserliche Willensäußerungen programmatischen 
Charakters z. B. Erlasse Wilhelm II. vom 4. Februar 1890. 
2. Stellvertretungsbefugnis des Reichskanzlers. 
aà) Im Vorsitze im Bundesrate kann sich der Reichskanzler mittels 
schriftlicher Substitution durch ein anderes preußisches Mitglied, und 
erst im Verhinderungsfalle des bevorrechtigten Bayern, 
durch jedes andere Mitglied des Bundesrates vertreten lassen (RV. 
Art. 15 Abs. 2 und bayer. Schlußprotokoll vom 23. November 1870 IX.) 
b) In der obersten Verwaltung des Reichs in seiner Funktion als 
Reichsminister ist eine Stellvertretung erst durch das Reichsgesetz 
vom 17. März 1878 (REBl. S. 7) ermöglicht worden. Danach 
kann dem Kanzler auf seinen Antrag vom Kaiser bestellt werden: 
a) ein Generalstellvertreter (Reichsvizekanzler) für den gesamten 
Umfang der Reichsministerialverwaltung; 
  
1) Jedoch nicht einziger Reichsminister wegen der kanzlerischen Befugnisse des 
Statthalters von Elsaß-Lothringen in diesem Lande. Deshalb unrichtig Hübler 
a. a. O. S. 76. 
2) Die Begründung des Deutschen Reichs. München u. Leipz. 1899.
	        
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