§ 63. Die Gesetzgebung des Deutschen Reichs. 125
Die rechtliche Natur des dem Kaiser zustehenden Ausfertigungs-
und Verkündungsrechtes verfassungsmäßig zustandegekommener Reichs-
gesetze ist streitig. Man sieht darin vielfach eine Pflicht des Kaisers
gegenüber den Verbündeten. Trotzdem fehlt es an einem Zwange
gegen ihn, die Ausfertigung und Verkündung vorzunehmen. Auf
diesem Wege steht dem Kaiser ein indirektes Veto zu. 1)
II. Geltungsgebiet der Reichsgesetze.
Die Reichsgesetze binden mit ihrer Verkündung im Reichsgesetzblatt
alle Untertanen des Reichs unmittelbar.
Die Reichsgesetze schaffen allgemeines Recht und gehen den Landes-
gesetzen nach RV. Art. 2 vor. „Reichsrecht bricht Landrecht.“ Hieraus
ergeben sich nachstehende wichtige Folgerungen:
a) Landrecht tritt ohne weiteres außer Kraft, auch wenn es mit
dem Reichsrecht übereinstimmt, vorausgesetzt, daß die Reichsgesetzgebung
die Materie erschöpfend regeln wollte.
b) Landesgesetze, welche Reichsgesetze ergänzen oder erläutern, sind
nur zulässig, insoweit sie nach ausdrücklicher Bestimmung der Reichs-
gesetze unberührt bleiben, oder wo die Regelung gewisser Punkte reichs-
gesetzlich der Landesgesetzgebung überlassen wird, oder insoweit sie als
Ausführungsgesetze das in Kraft gebliebene Landrecht mit dem Reichs-
rechte in Einklang zu bringen suchen.
) Landesgesetze, welche Reichsgesetze abändern oder außer Kraft
setzen, sind unwirksam.
Soweit eine Materie vom Reiche nicht geregelt ist, kann der einzelne
Bundesstaat sie durch Landesgesetze regeln, es sei denn, daß den
Bundesstaaten diese Möglichkeit gänzlich entzogen ist; so z. B. in
Sachen der einheitlichen Kriegsmarine (RV. Art. 53).
Inwieweit das Landesrecht neben dem Reichsrecht in Geltung ist,
unterliegt dem richterlichen Prüfungsrecht. Ob letzteres sich bezüglich
der Reichsgesetze auch darauf zu erstrecken hat, ob sie verfassungsmäßig
zustande gekommen sind, ist streitig.?)
Unter Berufung auf RV. Art. 177), in welchem das Prüfungs-
recht dem Kaiser vorbehalten sei und unter Hinweis auf RV. Art. 2,/)
nach welchem die Reichsgesetze ihre verbindliche Kraft durch ihre
Verkündung von Reichs wegen erhalten, ist vielfach das richterliche
Nachprüfungsrecht verneint worden. Jedoch zu Unrecht, da weder der
Inhalt vorstehender Artikel, noch sonst die Reichsverfassung die Frage
entscheidet. Unbestritten dagegen ist das Prüfungsrecht des Richters
hinsichtlich der Verordnungen von Reichsbehörden. ) Besonders zu
beurteilen ist der Fall, wenn ein preußisches Gesetz einem
Reichsgesetz widerspricht. Nach der zeitlichen Entstehung der
1) Vgl. hierzu Dernburg BR. Bd. 1 § 22 S. 61 und die in Anm. 2 zu § 22
gemachten Literaturangaben.
3) Vgl. Windscheid-Kipp, Pandekten Bd. 1 § 14 Anm. 2; Dernburg BR. Bd. 1
§ 26 S. 70; Jellinek, Gesetz u. Verordn. S. 396.
2) So Laband, Staatsr. Bd. 1 S. 526.
*) So Arndt, Kommentar z. RV. Anm. 9 zu Art. 2.
*) RG. Bd. 24 S. 3.