126 2. Buch. 2. Abschnitt. Verfassungsrecht des Deutschen Reiches.
preußischen Verfassung hat die vorgedachte Frage durch Art. 106 der
pr. VU. nicht entschieden werden sollen und können. Nach Art. 2
der RVerf. gehen die Reichsgesetze den Landesgesetzen vor, demnach
auch die RV. der Landesverfassung. Es muß demnach das richterliche
Prüfungsrecht sich zunächst auf die Kollision erstrecken, und wenn letztere
zu bejahen ist, sind die reichsgesetzlichen Bestimmungen maßgebend.
(Vgl. Eccius, Preuß. Privatr. Bd. 1 § 9 Anm. 7, Laband Bd. 2
S. 118 § 61).
III. Zuständigkeit des Reich.
Sie erstreckt sich auf die Beaufsichtigung und Gesetzgebung bezüglich
der im Art. 4 der Reichsverfassung unter 1—16 aufgeführten An-
gelegenheiten, 1) darunter fallen insbesondere:
1. Die Bestimmungen über Freizügigkeit, Heimats= und Nieder-
lassungsverhältnisse, Staatsbürgerrecht, Paßwesen, Fremdenpolizei und
über den Gewerbebetrieb einschließlich des Versicherungswesens, über
Kolonisation und Auswanderung;
2. die Zoll= und Handelsgesetzgebung und die für die Zwecke des
Reiches verwendeten Steuern;
3. das Maß-, Münz= und Gewichtswesen;
4. das Bankwesen;
5. die Erfindungspatente;
6. der Schutz des geistigen Eigentums;
7. der Schutz des deutschen Handels im Auslande, der deutschen
Schiffahrt zur See und das Konsulatswesen;
8. das Eisenbahnwesen und die Herstellung von Land= und Wasser-
straßen;
9. das Post= und Telegraphenwesen; «
10. die gemeinsame Gesetzgebung über das gesamte bürgerliche Recht,
das Strafrecht und das gerichtliche Verfahren;
11. das Militärwesen des Reichs und die Kriegsmarine;
12. die Medizinal= und Veterinärpolizei;
13. die Bestimmungen über die Presse und das Vereinswesen.
Der Umfang der Kompetenz des Reichs wird jedoch durch Art. 4
nicht vollständig erschöpft. Es finden sich in den weiteren Artikeln
der Reichsverfassung noch einzelne Gegenstände, die gleichfalls der
Reichsgesetzgebung unterliegen, z. B. Regelung von Verfassungsstreitig-
keiten in einzelnen Bundesstaaten (Art. 767, cf. Art. 20, 45, 54,
68, 69, 73 d. RV.).
Die Kompetenz der Reichsgesetzgebung ist teils eine ausschließ-
liche, teils eine fakultative.
Im letzteren Falle steht den Bundesstaaten, solange das Reich von
seiner Befugnis zur Regelung der betreffenden Angelegenheiten nicht
Gebrauch macht, das Recht der Gesetzgebung zu.
Das ausschließliche Recht der Gesetzgebung hat das
Reich bezüglich der bei der Zuständigkeit des Reichs aufgeführten
1, Bei Art. 415 ist durch RG. v. 20. Dezember 1873 (Lex Lasker) die Zu-
ständigkeit erweitert, indem an Stelle des „Obligationsrechts“ „das gesamte bürger-
liche Recht“ gesetzt wurde.