§ 74. I. Der Gewerbebetrieb. 169
Abgeschlossenheit auch großen politischen Einfluß, letzteres insbesondere
durch die ihnen gewährleistete Teilnahme am Stadtregiment.
Die so erlangte Machtstellung verwendeten diese gewerblichen Korpo-
rationen nicht bloß im allgemeinen Interesse, sondern mißbrauchten
dieselbe, indem sie durch Ausübung eines starren Zunftzwanges und
durch Erlangung von Zwangs-Bannrechten jede freie Konkurrenz fern-
hielten und dadurch zu einer Verteuerung der Lebensbedürfnisse bei-
trugen. ·
Diesen Mißbräuchen, welche im 17. Jahrhundert ihren Höhepunkt
erreichten, traten sowohl das Reich als auch die Landesfürsten durch
polizeiliche Maßnahmen entgegen. Es wurden insbesondere polizeiliche
Taxen für die Preise der gewerblichen Erzeugnisse erlassen und der
Zunftzwang eingeschränkt.
Eine völlige Anderung des Wirtschaftssystems trat um die Wende
des 18. und 19. Jahrhunderts ein. Mit der zunehmenden Dichtigkeit
der Bevölkerung, dem wachsenden Wohlstande derselben und den da-
durch gesteigerten Anforderungen an die gewerbliche Produktion und
den Güterumsatz, mit dem ÜUbergang des Handwerksbetriebs in den
Fabrik= und Maschinenbetrieb, mit dem gegenseitigen Austausch der
Gütererzeugnisse mit dem Ausland unterstützt von dem durch Ad. Smith
vertretenen Freihandelssystem gewann immer mehr die Anschauung
Oberhand, daß die noch vorhandenen Beschränkungen der Gewerbe
beseitigt und ein freier Wettbewerb aller Gewerbetreibenden zugelassen
werden müßte. In Preußen wurde dieser Anschauung durch die Stein-
und Hardenbergsche Gesetzgebung, durch die Edikte vom 2. November
1810 und 7. September 1811 (GS. S. 263) Rechnung getragen,
indem die Unterscheidung zwischen Stadt und Land für den Gewerbe-
betrieb beseitigt wurde, die Zwangs= und Bannrechte grundsätzlich
aufgehoben und nur Beschränkungen, soweit sie das Gemeinwohl er-
forderte, aufrecht erhalten wurden.
Eine umfassendere Regelung des Gewerberechts erfolgte in Preußen
erst durch die Allgemeine Gewerbeordnung vom 17. Januar 1845
(GS. S. 41), welche noch ergänzt wurde durch die Gesetze vom
9. Februar 1849 (GS. S. 105) und vom 3. April 1854 (GS. S. 138).
In dieser Gesetzgebung ist jedoch nur eine beschränkte Gewerbefreiheit
anerkannt.
3. Norddentsche Gewerbeordnnug und Reichsgewerbeordnung. Einer
völligen Gewerbefreiheit, soweit die Zulassung zum Gewerbebetriebe,
nicht aber die Art, wie der Gewerbebetrieb ausgeübt wird, in Frage
kommt, wurden erst durch die Gesetzgebung des Norddeutschen Bundes
die Wege geebnet.
Im Norddeutschen Bunde wurde zunächst auf Grund des Art. 4
Nr. 1 der Verfassung ein Bundesgesetz, betreffend den Betrieb der
stehenden Gewerbe vom 8. Juli 1868 erlassen (Notgewerbegesetz ge-
nannt). Eine vollständige Kodifikation des Gewerberechts erfolgte erst
durch die als Bundesgesetz erlassene, gemäß § 2 EG. z. RV. vom
16. April 1871 zum Reichsgesetz erklärte Reichsgewerbeordnung vom
21. Juni 1869 (BEl. S. 245). Die Gewerbeordnung gilt im