§ 86. Bedeutung u. geschichtliche Entwicklung der Reichsgesetzgebung. 291
sofern fortbestehend und unberührt geblieben, und zwar unbeschränkt,
als die Haftung in Frage kommt bei Schaden an beförderten Sachen
und für Schaden an Personen, soweit der Unfall außerhalb des Be-
triebes stattgefunden hat, und soweit die Unfallversicherungsgesetzgebung
nicht Platz greift (z. B. Pferde eines Wagens gehen durch beim Nahen
des Zuges, und der Führer des Wagens verunglückt).
Nach dem Reichshaftpflichtgesetz werden zwei Arten von Unter-
nehmungen unterschieden. Für Tötungen und Verletzungen beim Eisen-
bahnbetriebe ist der Unternehmer schadenersatzpflichtig, sofern er nicht
beweist, daß der Unfall durch höhere Gewalt oder durch eigenes Ver-
schulden des Getöteten oder Verletzten verursacht ist (S§ 1 des Haft-
pflichtgesetzes). In diesen Fällen ist ein Verschulden der Eisenbahn
nicht nachzuweisen. Anders dagegen bei Fabriken und Bergwerken.
Hier tritt nur eine Haftung ein bei eigenem Verschulden des Unter-
nehmers oder bei dem seiner Vertreter.
Die Haftung der Eisenbahnunternehmer ist danach eine weitergehende,
weil sie auch für das Verschulden von Personen haften, die nicht ihre
Vertreter sind und ferner durch die Umkehrung der Beweislast.
Die juristische Konstruktion der Haftpflicht blieb eine rein privatrechtliche.
Die Hauptmängel des Reichshaftpflichtgesetzes beruhten, abgesehen
von der unzureichenden privatrechtlichen Grundlage, in folgendem:
1. Es fehlte bei Eisenbahnunfällen jeder Schutz in den zahlreichen
Fällen, wo höhere Gewalt und eigenes Verschulden Platz griff.
2. Abgesehen von den Eisenbahnunternehmungen war der Nachweis
des Verschuldens oft sehr schwierig zu führen.
3. Der Schadenersatzanspruch war stets von einem langdauernden
Zivilprozeß abhängig, der oft noch große Kosten verursachte.
4. Oftmals wurden anfänglich geringe Beträge vom Unternehmer
bezahlt. Die spätere Geltendmachung weiterer Ansprüche war alsdann
durch die kurze Verjährungsfrist von zwei Jahren vielfach ausgeschlossen.
Nachdem die deutsche Unfallversicherungsgesetzgebung auf fast sämt-
liche Betriebe ausgedehnt ist, gilt § 1 des Reichshaftpflichtgesetzes im
wesentlichen nur noch für die nicht der Unfallversicherung unterliegenden
Personen. Ferner sind §§ 1, 2 des Reichshaftpflichtgesetzes fortdauernd
gültig für alle zum Betriebsunternehmer nicht im Verhältnis eines
Arbeiters oder Betriebsbeamten stehenden Personen.
3. Die Entwicklung der Reichsunfallversicherungs-
gesetzgebung. Zunächst erging das Unfallversicherungsgesetz
vom 6. Juli 1884 (RGBl. S. 69), welches die Unfallversicherung
einführte für alle in gewerblichen Betrieben gegen Gehalt oder
Lohn beschäftigten Arbeiter und Betriebsbeamten, für letztere bis zu
2000 Mark Gehalt.
Eine weitere Ausdehnung erfolgte durch das sogenannte Aus-
dehnungsgesetz für Kranken= und Unfallversicherung vom 28. Mai
1885 (REBl. S. 159), durch welches in die Unfallversicherung ein-
bezogen wurden die Betriebe der Post-, Telegraphen= und Eisenbahn-
verwaltungen, Marine= und Heeresverwaltungen einschließlich der Bauten,
Baggereibetrieb, Fuhrwerks-, Binnenschiffahrts-, Flößerei-, Prahm- und
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