Full text: Die Verfassung und Verwaltung im Deutschen Reiche und Preußen. Erster Band. Deutsches Reich. (1)

32 1. Buch. 3. Abschnitt. Die Organe d. Reichs= u. Staatsverwaltung. 
Die Gehorsams= und Trenepflicht 1) der Reichsbeamten bedarf einer 
besonderen Erörterung. 
Jeder Beamte übernimmt durch seine Anstellung die Pflicht zum 
Gehorsam gegen die Befehle und Anordnungen seiner Vorgesetzten, da 
sonst eine einheitliche Leitung der Staatsgeschäfte nicht ausführbar wäre. 
Dieser Gehorsam ist aber kein unbedingter, sondern hat seine Grenzen 
und Einschränkungen. Zunächst bezieht sich diese Verpflichtung des 
Beamten nur auf die Erfüllung amtlicher Geschäfte, der Beamte ist 
also nicht verbunden, Verrichtungen auszuführen, welche mit seiner 
amtlichen Tätigkeit nichts zu tun haben. Aber auch bei amtlichen 
Aufträgen müssen gewisse Einschränkungen stattfinden, da der Beamte 
zugleich die Pflicht hat, die Gesetze und die Verfassung zu beobachten, und 
die Möglichkeit eintreten kann, daß die Verfügungen der vorgesetzten 
Behörden damit im Widerspruch sind. Es fragt sich also, ob und inwieweit 
die Befugnis des Beamten besteht, die Gesetz= und Verfassungsmäßigkeit 
eines ihm seitens seiner Vorgesetzten übertragenen Geschäfts oder ihm er- 
teilter Anordnung zu prüfen und nötigenfalls die Erfüllung zu verweigern. 
Einzelne Landesgesetzgebungen stellen den Grundsatz auf, daß der 
Beamte einem gesetzwidrigen Befehl seiner Vorgesetzten gegenüber die 
Pflicht hat, seine Bedenken geltend zu machen und, falls seine Vor- 
stellung fruchtlos bliebe, den Auftrag unbedingt ausführen müsse, dann 
aber auch von jeder Verantwortlichkeit frei wäre und solche der an- 
ordnenden Behörde allein zur Last fiele. Diese partikularrechtliche 
Vorschrift wird von anderen Staatsrechtslehrern zur allgemeinen Regel 
erhoben, insbesondere auch für das preußische und Reichsbeamtenrecht 
von Rönne (Preuß. Staatsrecht. 4. Aufl. Bd. 3 S. 475 u. deutsches 
Staatsrecht. 2. Aufl. Bd. 1 S. 354). Gegen diese Rechtsansicht 
hat sich vor allem Laband in seinem deutschen Staatsr. 4. Aufl. Bd. 1 
S. 432 ff. gewendet, welcher davon ausgeht, daß jeder Beamte die 
Prüfung der Gesetzmäßigkeit aller dienstlichen Anordnungen „auf eigne 
Gefahr“ vorzunehmen hat. Dieses Prinzip hat auch in einer Schadens- 
prozeßsache des Fiskus gegen einen Amtsrichter, welcher gegen eine in 
Handelsregistersachen allgemeine Verfügung des Justizministers, zu deren 
Erlaß derselbe an sich kompetent war, ausdrücklich mit der Begründung 
ihrer Ungesetzmäßigkeit zuwidergehandelt hatte, neuerdings das Reichs- 
gericht als Revisionsgericht ausgesprochen (RG. Entsch. in Zivils. Bd. 5 
S. 429 Nr. 110). Der Richter steht in der Gehorsamspflicht den 
Anordnungen seiner Vorgesetzten gegenüber sonst freier, als der Ver- 
waltungsbeamte; diese Unabhängigkeit bezieht sich aber nur auf die 
Ausübung der eigentlichen Rechtspflege, nicht auf das Gebiet der Justiz- 
verwaltung, innerhalb deren Rahmen auch der Richter die Anordnungen 
insoweit befolgen muß, als nicht höhere Normen entgegenstehen, sich 
also im Falle der Nichtbefolgung verantwortlich macht bezw. dieselbe 
„auf eigene Gefahr“ begeht. Von diesem Gesichtspunkte aus beschränkt 
Laband die Prüfungspflicht des Beamten lediglich auf die „formelle“ 
Rechtmäßigkeit der ihm erteilten Vorschriften und verneint im allge- 
1) Vgl. hierzu Nadnitzky i. Archiv f. öffentl. R. Bd. 20 Heft 1 (1905) S. 120 f.
	        
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