Full text: Die Verfassung und Verwaltung im Deutschen Reiche und Preußen. Erster Band. Deutsches Reich. (1)

§ 21. Haftung der Beamten für Verletzung der Amtspflicht. 37 
Eine abweichende Regelung der Haftpflicht hat das BGB. für die 
mit der Fällung von Urteilen in einer Rechtssache betrauten Beamten 
für geboten erachtet. Das BGB. geht davon aus, daß es mit der 
Unabhängigkeit der Gerichte und den Grundsätzen über die Rechtskraft 
der Urteile nicht vereinbar wäre, den Spruchrichter für jedes Ver- 
sehen haftbar zu machen. Demgemäß bestimmt § 839 Abs. 2 BGB. 
in Übereinstimmung mit dem preußischen Recht (Entsch. OTr. Bd. 3 
S. 253, Bd. 62 S. 306; Entsch, des RG. im IMBl. 1897 S. 106), 
daß die gedachten Beamten, soweit es sich um die Leitung oder Ent- 
scheidung einer Rechtssache handelt, nur verantwortlich sein sollen, 
wenn sie das Recht gebeugt oder eine sonstige Pflichtverletzung be- 
gangen haben, die mit einer im Wege des gerichtlichen Strafverfahrens 
zu verhängenden öffentlichen Strafe (ogl. ZPO. 8§ 580 Nr. 5, St PO. 
§ 402 Nr. 3) bedroht ist. Die Tragweite dieser Vorschrift wird 
übrigens durch den Zusatz begrenzt, daß sie auf eine pflichtwidrige 
Verweigerung oder Verzögerung der Ausübung des Amtes keine An- 
wendung findet (§ 839 Abs. 2 Satz 2 BG.). « 
Als Spruchrichter kommen hier nur die Richter der streitigen, nicht 
der freiwilligen Gerichtsbarkeit in Betracht; 1) im übrigen besteht kein 
Unterschied zwischen Zivil= und Strafrichtern, Richtern der Verwaltungs- 
gerichtsbarkeit oder sonstigen Verwaltungsbeamten, welche mit richter- 
lichen Funktionen betraut sind. 
Was unter Urteil zu verstehen ist, ist streitig. Der Abgeordnete 
Gröber wollte bei den Verhandlungen des Reichstages, auf dessen 
Antrag die Worte „bei dem Urteil in einer Rechtssache“ eingefügt 
worden sind, unter Urteil nur eine Entscheidung, „durch welche das 
Prozeßverhältnis für die Instanz beendigt wird“, d. h. Endurteile, 
Zwischen= und Teilurteile, verstanden wissen (vgl. OLG. Köln im Urteil 
vom 8. Januar 1902 in der Zeitschr. „Das Recht“ 1902 S. 206 Nr. 971). 
Die herrschende Ansicht 2) hat sich dieser einschränkenden Auslegung des 
Wortes „Urteil“, welche allerdings noch von Planck BGB. Bd. 1 
Anm. 2 Abs. 2 zu § 839, Nöldeke a. a. O. S. 809 ff., Hachenburg, BGB. 
Vorträge S. 162 vertreten wird, nicht angeschlossen, indem sie auf den 
Zweck des § 839 Abs. 2 und die Willkür und Unbilligkeit, welche der 
einschränkenden Interpretation innewohnen, hingewiesen hat. Danach 
ist unter Urteil jede rechtsfeststellende, ein materielles oder prozessualisches 
Recht feststellende oder aberkennende Entscheidung zu verstehen, gleich- 
viel ob die Entscheidung als Urteil, Beschluß oder sonstwie bezeichnet 
wird. s) Auszuscheiden sind Entscheidungen, welche die Prozeßleitung 
oder eine Verwaltungsangelegenheit betreffen, z. B. Terminsanbe- 
raumung, Wertsfestsetzung, im Strafverfahren Erlaß eines Haftbefehls, 
wohl aber fällt darunter für das Strafverfahren Beschluß über Ein- 
1) Vgl. Nöldeke, die zivilrechtl. Haftung des Richters nach dem BGB. in Gruchot 
ßd. 42 S. 819, Schneider, die Haftbarkeit des sog. Spruchrichters nach dem BG. 
im Arch. für zivil. Praxis Bd. 91 S. 248 ff. a. M. Neumann, Handausgabe des 
BGB. Anm. II zu § 839. 
:) So Schneider a. a. O. S. 209 ff., Dernburg, BR. Bd. 2 § 393 III S. 639, 
Goldmann-Lilienthal Bd. 1 S. 910 § 236. 
„:) So Schneider a. a. O. S. 251. 
 
	        
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