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In Übersetzung:
Belgische Gesandtschaft
St. Detersburg. den 30. Juli 1914.
795/402.
Die politische Lage.
An
Seine Exzellenz Herrn Davignon, Minister der auswärtigen Angelegenheiten.
Herr Minister!
Der gestrige und vorgestrige Tag vergingen in der Erwartung von Ereignissen,
die der Kriegserklärung Osterreich-Ungarns an Serbien folgen mußten. Die wider-
sprechendsten Nachrichten wurden verbreitet, ohne daß es möglich gewesen wäre, be.-
züglich der Absichten der Kaiserlichen Russischen) Regierung Wahres vom Falschen
genau zu unterscheiden. Unbestreitbar bleibt nur, daß Oeutschland sich hier ebenso-
sehr wie in Wien bemüht hat, irgendein Mittel zu finden, um einen allgemeinen
Konflikt zu vermeiden, daß es dabei aber einerseits auf die feste Entschlossenheit des
Wiener Kabinetts gestoßen ist, keinen Schritt zurückzuweichen und anderseits auf das
Mißtrauen des Petersburger Kabinetts gegenüber den Versicherungen Österreich-Ungarns,
daß es nur an eine Bestrafung, nicht an eine Besitzergreifung Serbiens denke.
Herr Sasonow hat erklärt, daß es für Rußland unmöglich sei, sich nicht bereit-
zuhalten und nicht zu mobilisieren, daß aber diese Vorbereitungen nicht gegen
Deutschland gerichtet seien. Hente morgen kündet ein offizielles Communiqué an die
Zeitungen an, daß die Reservisten in einer bestimmten Anzahl von Gouvernements
zu den Fahnen gerufen sind. Wer die Zurückhaltung der offiziellen russischen
Commnnigquéês kennt, kann ruhig behaupten, daß überall mobil gemacht wird.
Der deutsche Botschafter hat heute morgen erklärt, daß er am Ende seiner seit
Sonnabend ununterbrochen fortgesetzten Ausgleichsbemühungen angelangt sei und daß
er kaum noch Hoffnung habe. Wie mir eben mitgeteilt wird, hat sich auch der
englische Botschafter im gleichen Sinne ausgesprochen. England hat letzthin einen
Schiedsspruch vorgeschlagen. Herr Sasonow antwortete: „Wir selbst haben ihn
Ssterreich-Ungarn vorgeschlagen, es hat den Vorschlag aber zurückgewiesen.“ Auf den
Vorschlag einer Konferenz hat Deutschlaud mit dem Vorschlage einer Verständigung
zwischen den Kabinetten geantwortet. Man möchte sich wahrhaftig fragen, ob nicht
alle Welt den Krieg wünscht und nur versucht, die Kriegserklärung noch etwas
hinanszuschieben, um Jeit zu gewinnen.
England gab anfänglich zu verstehen, daß es sich nicht in einen Konflikt hinein-
ziehen lassen wolle. Sir George Buchanan sprach das offen aus. Heute aber ist
man in St. Petersburg fest davon überzengt, ja man hat sogar die Lusicherung,
daß England Frankreich beistehen wird. Dieser Beistand fällt ganz außerordentlich
ins Gewicht und hat nicht wenig dazu beigetragen, der Kriegspartei Oberwasser zu
verschaffen.